«Esmeralda! Du MUSST kommen! Du hast es mir versprochen und ich werde ohne dich durchdrehen! Und…» Das ist meine beste Freundin, Rosa. Wir kennen uns schon seit dem Kindergarten und hatten es immer gut miteinander. Nun ja, jetzt schreit sie mich gerade durch das Telefon in zwei Sprachen an. Englisch, weil wir in Louisiana, in den USA sind, und Portugiesisch, weil wir beide Eltern aus Brasilien haben. Sie hat eine riesige Party für heute Abend organisiert und es stimmte. Ich habe ihr versprochen, dass ich komme, doch meine Mamãe hat ausgerechnet heute entschieden, mit meinem Papai wandern zu gehen. Mit Übernachtung! Was bedeutet, dass ich auf meinen kleinen Bruder, Brilhar aufpassen muss. Während er noch in der Primarschule ist, bin ich schon siebzehn und in meinem dritten Highschool Jahr. Allerdings kennen mich nur wenige Leute bei Namen. Die meisten kennen mich einfach als «Rosas beste Freundin». «Rosa, ich habe lange mit Mamãe diskutiert, doch sie ändert ihre Meinung nicht. Ich zitiere: ‘Du passt heute auf deinen Bruder auf. Schluss, Punkt, Ende, Fertig. ’», unterbreche ich Rosa. Auf dem anderen Ende der Leitung ist nur noch ein tiefes Seufzen zu hören, bis sie sagt: «Gut, dann komm ich eben morgen bei dir vorbei. Eu te amo.» «Ich dich auch», antworte ich ihr.
Es wurde Abend und die Party sollte begonnen haben, doch ich sitze mit meinem kleinen Bruder vor dem Fernseher. Nicht dass ich meinen Bruder nicht liebe, aber es ist mir eben langweilig. Nach einem Film brachte ich meinen Bruder ins Bett und dann klingelte es an der Tür. Mamãe und Papai wollten doch übernachten bei einem Unterschlupf übernachten und Rosa wollte doch erst morgen vorbeikommen. Ich schaue durchs Guckloch und… warum ist jetzt Rosas grosser Bruder, Dominic vor meiner Tür? «Was machst du hier?», ist das einzige Vernünftige, dass ich aus mir rausbringe. Dominic läuft einfach an mir vorbei durch die Tür und würdigt mich keines Blickes, während er antwortet: «Ich habe am Montag zwei Prüfungen. Morgen ist es Sonntag und dann habe ich keine Zeit zum Lernen. Also will ich das heute tun, allerdings geht das nicht mit dem Lärm einer Party im Haus. Deshalb bin ich hier, bei Rosas kleiner Assistentin.» Bei den letzten Worten schaut er mich mit diesem arroganten, herablassenden Grinsen an. Mit dem, dass er nur für mich reserviert hat. Ich weiss, dass er mich nur provozieren will. Es funktionierte aber jedes Mal. «Wenn du nicht einmal höflich sein kannst, dann kannst du gleich wieder abdampfen. Idiota.» «Ich liebe es, wenn du wütend bist. Dann sieht man richtig deine Pausbäckchen.» Ich schnaubte. Typisch Dominic, immer mit dummen Komplimenten vom Thema abweichen. «Auf jedenfalls,» fährt er fort, «könntest du mir vielleicht sogar helfen mit Mathe. Rosa sagt immer, dass du ein Mathegenie bist. Auch wenn ich das noch nicht ganz glaube.» Somit endete ich neben ihm am Küchentisch mit einem heissen Kakao in der Hand und einem zweiten auf dem Tisch für ihn. Ich schaue die Aufgaben von ihm an und schiele manchmal zu ihm rüber, um zu schauen, wie er mit den Aufgaben umgeht. Ich kenne ihn schon so lange, aber gleichzeitig kenne ich ihn auch gar nicht. Das ist das erste Mal, wo ich mich frage, warum ich ihn so wenig kenne, also frage ich einfach: «Was ist dein Traumberuf?» Er schaut mich schräg an, als habe ich etwas absurdes gefragt. «Was? Ich möchte ein wenig mehr über dich erfahren. Was ist deine Lieblingsfarbe? Lieblingstier? Und warum bist du hierhergekommen und nicht zu einem deiner Freunde?» Er studiert mein Gesicht noch für eine weitere Sekunde bevor er seinen Blick wieder auf seine Blätter richtet und antwortet: «Chirurg, Smaragdgrün, Tiger und ich will nicht, dass ein Elternteil einer meiner Freunde denkt, dass ich zuhause Probleme habe oder so etwas ähnliches. Und du?» «Was ich?» «Was ist dein Traumberuf, dein Lieblingstier und deine Lieblingsfarbe?» Seine Fragen waren unerwartet und für eine kurze Zeit war ich zu perplex, um zu antworten. Er merkte es wohl, denn er grinste wieder einmal. «Ich mag Papageie. Es fasziniert mich, wie sie einen nachsprechen können. Meine Lieblingsfarbe ist Azurblau und ich weiss noch nicht, was ich werden will.» Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber für mich wäre es, als hätte etwas zwischen uns geändert. Natürlich nur im Sinne von, dass wir uns jetzt besser verstanden. Oder?
Es fühlte sich so natürlich an, mit ihm zu sprechen, während wir gemeinsam Aufgaben von ihm lösten. Als wäre die Zeit gestoppt worden und wir nur im Moment lebten. Wir haben die Zeit vergessen, aber es fühlt sich so an, als wäre dies nicht wichtig. Ich dachte mir nie, dass ich eine Verbindung mit dem Bruder meiner Freundin haben könne. Ich dachte immer, er sei ein arrogantes Miststück. Jedoch verflog dieser Gedanke, je länger wir in die Nacht arbeiteten. Irgendwann war es 2.00 Uhr in der Nacht, als wir anfingen, Dominics Aufgaben zusammenzupacken. «Dein Traumberuf soll etwas sein, worin du gut bist und gerne machst. Merk dir das», hauchte Dominic, als wir seine Blätter fertig einordneten. Seine Stimme war so sanft und wohlwollend, dass ich fast darin versunken wäre. Ich begleitete ihn zur Tür, da kam mir wieder in den Sinn, was seine Lieblingsfarbe ist. Ich dachte mir zuerst nichts dabei, aber jetzt wollte ich mich vergewissern. «Warum ist genau Smaragdgrün deine Lieblingsfarbe? Warum nicht ein anderer Grünton? Du weisst doch, dass ‘Esmeralda’ Smaragd heisst in portugiesisch. Hat es etwas mit meinem Namen zu tun?», fragte ich ihn schliesslich. Er antwortete mit einem Einfachem: «Gut möglich.» Damit drückte er mir einen leichten Kuss auf die Wange und ging.
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