«Nächste Woche treffen wir uns wieder Dienstags. Vergesst nicht, dies ist eine Selbsthilfegruppe. Ihr macht das für euch.», erklingt die Stimme der Therapeutin
Ich stopfe fluchend meine Jacke in meine Umhängetasche und lege meine Kopfhörer um meinen Hals. Nächste Woche. Dienstag. Ich weiss nicht wie ich das schaffen soll. Ich habe noch nicht mal etwas gesagt vor all diesen Leuten und trotzdem ist es schwer. War das vielleicht doch so keine gute Idee?
«Und warum bist du hier?»
ich schrecke auf. Ein dunkelhaariger Junge neben mir betrachtet mich misstrauisch.
Ich hebe den Finger und zeige zögernd auf meine Brust. Meinte er mich? Doch der mysteriöse Junge hebt nur eine Augenbraue. Er trägt eine Lederjacke, darunter ein weisses Shirt. Seine Converse sind ziemlich abgewetzt und sein Skateboard liegt unter seinem Stuhl. «Dir hats wohl die Sprache verschlagen, nicht?», fragt er. Schluckend spüre ich, wie meine Wangen sich röten. «Ich… ich bin Suizidal.», antworte ich zögernd. Der Fremde pfeift. «Ziemlich heftig…»,betont er, und fügt hinzu: «Mein Name ist Elias. Du bist neu, nicht? Ich hab dich hier noch nie gesehen. Also, was ist deine Geschichte?» Ich kratze an meinem Arm. Unsicher, aber neugierig versuche ich eine originelle Antwort aus meinem Kopf zu fischen, doch ich finde nur pures Chaos. In meinem Kopf ist es schon seit längerer Zeit nicht mehr ordentlich.
Ich überlege mir einfach wegzulaufen, weil die Stille zu unangenehm ist, da fängt Elias an in seiner Tasche zu kramen. Schliesslich zieht er eine rechteckige Schachtel heraus und öffnet sie. Ich schaue neugierig darauf, bis ich bemerke dass es Zigarren sind. Ich öffne meinen Mund stockend. «Du darfst hier nicht rauchen» mahne ich, doch er hat sie bereits angezündet und zieht jetzt entspannt daran.
«Bei mir ist es Sucht», antwortet er, als er den Rauch ausatmet.
«Entschuldigung?», huste ich. «Sucht», wiederholt er, «deshalb bin ich hier. Ob es was bringt ist eine andere Frage.» Er nimmt noch mal einen Zug.
«Die erste Zigarre hatte ich mit sieben. Eltern, die es mir verbieten könnten hatte ich nicht und die älteren Kinder im Waisenhaus hatten ständig geraucht. Ich war damals leicht anzugreifen, schwach und klein. Ich brauchte jemanden, der mich schützen konnte. Also hatte ich mich an die Älteren gewendet. Wollte ihnen zeigen, dass ich cool bin. Es fing mit Zigarren an, die durfte ich schnorren, doch dann diente ich bald als Lieferant.
Ein Kind, so jemand würde man niemals verdächtigen. Also tat ich worum die Siebzehnjährigen mich baten und im Gegensatz verteidigten sie mich. Ich lernte die Namen der Drogen, die Funktion, Dosierung. Ich nahm bald mehr zu mir als nur Zigarren. Pillen und Tabak wurden mein Ausweg. ein Weg allem schlechten der Welt zu entgehen. Natürlich richtet es Schaden an, doch wen hatte ich sonst als Bezugsperson? Selbst mein bester Freund Linus, den ich mit zwölf kennenlernte war damals abhängig. Er war vier Jahre älter als ich, doch ich war die Person, die ihn hielt wenn er erbrach und die Zähne putzte wenn er schon mittags bewusstlos war. Ich liebte Linus, doch wir wussten uns selbst nicht zu helfen. Niemals hätten wir den jeweiligen anderen retten können.» Elias stockte kurz. Sein Bein fing an zu zittern.
«Er starb mit achtzehn an einer Überdosis. Da war es endgültig klar, ich hatte meine Jugend verspielt. Ich hatte niemanden mehr, weder meinen eigenen Geist noch einen besten Freund. Drogen wurden zu meiner Bezugsperson. Ich wurde nie adoptiert, nie umgesetzt. Ich bin seit siebzehn Jahren im selben Haus und versuche seit fast zehn Jahren dem Teufelskreis zu entkommen», erklärte er mir, seine Stimme tief.
Ich verstand wie er sich fühlte. Ich sah die Verzweiflung in seinen Augen. Ich wusste nicht, wie es ihm zu erklären war, also nahm ich ihm die Zigarette aus der Hand und zerstampfte sie mit meinem Stiefel. Elias öffnete sein Mund, doch protestierte nicht, worauf ich lächelte.
Ich wartete einen Moment, um meinen Mut zu fassen, bevor ich anfing zu erzählen.
«Meine erste Diagnose hatte ich mit neun. Ich sei anders als die Kinder mit welchen ich spielte, sagten mir meine Eltern. Mit zwölf erfuhr ich den Namen. Depression. Es war eine schwere Zeit für mich. Während meine Eltern versuchten es zu vertuschen, wuchsen meine Sorgenberge. Ich spürte zuerst keine Freude mehr. Ich fand vieles nicht mehr witzig und heulte mich nächtelang nur voll. Ich hatte Freunde, aber nur weil diese nicht wussten was mit mir los war. Ich hörte auf, Expressionen mit Emotionen zu verbinden. Ich spürte fast nichts mehr. Es war, als wär ich betäubt. Erst als ich anfing, Medikamente zu nehmen, ging es besser.
Ein paar Leute entfernten sich von mir, aber ich lernte ein Mädchen kennen, Ronja. Sie hatte Krebs. Sie war der erste Mensch, der mich verstand. Der erste Mensch, der sich nicht kümmerte, dass meine Arme vernarbt waren. Manchmal nahm sie mich mit in ihre Selbsthilfegruppe, und ich fing an öfters zur Therapie zu gehen. Mir ging es gut, ich fühlte mich lebendig. Bis sie vor zwei Jahren starb. Ich war damals vierzehn.
Danach suchte ich nie mehr irgendeine Form von ärztlicher Hilfe auf. Doch heute ist ihr Todestag, und ich hatte ihr ein Versprechen gemacht. Sie ist zwar gestorben, doch ich muss für sie weiterleben. Ich muss es irgendwie schaffen, die Dunkelheit für immer hinter mir zu lassen.» erwidere ich, mein Atem stockend.
Ich schaue Elias hilfesuchend in die Augen.
Doch was ich dort auffinde, ist weder Abneigung, noch Mitleid. Es ist Verständnis. Er legt seine Hand über meine und ich lächle ihn an. «Du musst das nicht tun», flüstere ich, und will meine Hand aus seiner nehmen. «Ich bin ein Abgrund. Mit mir wird es nicht besser», füge ich hinzu, doch Elias schüttelt seinen Kopf. «Ich sehe deine Narben, doch viel mehr sehe ich dich. Gib dem Leben eine Chance, Fremde.», antwortet er. Ein kleiner Funken Hoffnung flackert in mir.
«Mila. Mein Name ist Mila- Jetzt bin ich keine Fremde mehr», lache ich. Elias lächelt mich an. «Na dann, bis nächste Woche, Mila. Ich hoffe du kommst.»
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