„Isaac!“ schrie sie aus vollem Halse, ihre Stimme zerrissen von Schmerz und Verzweiflung. Es war, als würde jeder Schrei ihre Lungen zerfetzen, die Luft aus ihrem Körper reissen, bis sie kaum noch atmen konnte. Der dumpfe Schmerz in ihrer Brust schien alles zu erdrücken, und die Welt um sie herum verschwamm. „Es kann doch nicht so enden“, dachte sie verzweifelt, als ihr eine heisse Träne die Wange hinunterlief und ihre Sicht weiter verschwommen wurde.
Ihre Gedanken drifteten zurück, zurück zu dem Tag, an dem alles begann. Sie waren beide erst acht Jahre alt gewesen, als sie sich zum ersten Mal begegneten. Es war der Geburtstag eines gemeinsamen Freundes, ein unscheinbarer Tag, der jedoch alles für sie verändern sollte. Isaac war ein Junge mit kurzen blonden Haaren, einem breiten Lächeln, das die Welt erhellte, und strahlend braune Augen, die vor Energie nur so funkelten. Dieses Lächeln hatte Ivy sofort verzaubert. Isaac war in der Parallelklasse, und sie begann, immer wieder nach ihm Ausschau zu halten. Sie wusste nicht, warum sie es tat, aber irgendetwas an ihm zog sie magisch an. Isaac liebte Hockey, und schon bald stand Ivy jeden nach der Schule bei jedem seiner Spiele in der vordersten Reihe, immer wieder um ihn spielen zu sehen. Es dauerte nicht lange, bis Isaac bemerkte, dass dieses Mädchen mit den welligen Haaren und den neugierigen Augen immer da war, ihm immer zusah, selbst in Momenten, in denen er nicht mehr konnte.
Ihre Freundschaft wurde immer tiefer. Es gab immer mehr Nachmittage, an denen sie stundenlang redeten, lachten und gemeinsam durch die Strassen gingen. Mit der Zeit wurden sie unzertrennlich, und als sie 14 Jahre alt waren, kam der Moment, den Ivy niemals vergessen würde. Es war eine warme Sommernacht im Park. Sie sassen im Gras umgeben von der Ruhe der Nacht, die nur von ihren leisen Stimmen durchbrochen wurde. Ein unsichtbarer Funke schien in der Luft zu liegen, und bevor sie es wussten, hatten sie sich geküsst. Ivy erinnerte sich noch genau an das Gefühl seiner weichen Lippen auf ihren, an das elektrische Kribbeln, das durch ihren Körper fuhr, und an das Lächeln, das danach für Stunden auf ihrem Gesicht lag.
Doch jetzt lächelte niemand mehr.
Isaac war 17, als er endlich sein Motorrad bekam. Schon früher wollte er immer eins haben doch die Gelegenheit kam erst jetzt. Mit dem Wind, der durch seine Haare strich, und der unendlichen Strasse vor ihm, fühlte er sich lebendig wie nie zuvor. Es war egal, ob es Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang war, für Isaac gab es keinen schöneren Moment, als mit hoher Geschwindigkeit über die Strassen zu flitzen, die Musik im Helm so laut aufgedreht, dass sie all seine Gedanken übertönte. Es war für ihn, als könnte nichts und niemand ihn aufhalten.
Ivy hingegen fühlte sich jedes Mal unwohl, wenn er von seinen Motorradtouren sprach. Sie liebte ihn, vielleicht mehr, als sie je in Worte fassen konnte, und genau deshalb machte ihr seine Leichtsinnigkeit Angst. „Wir sind doch erst 17“, hatte sie ihm immer wieder gesagt, ihn immer wieder gewarnt. Aber Isaac hatte nur gelacht, sein vertrautes Lächeln aufgesetzt und versichert, dass alles in Ordnung sei. „Mach dir keine Sorgen“, hatte er gesagt, „ich passe schon auf mich auf.“
Doch dann kam dieser eine Anruf.
Es war ein ruhiger Abend gewesen, nichts Besonderes, und Ivy hatte sich gemütlich in ihr Bett gekuschelt, ein schweres Buch in der Hand, während das Handy auf dem Nachttisch lag. Als das Klingeln plötzlich die Stille durchbrach, zuckte sie leicht zusammen. Sie warf einen kurzen Blick aufs Display, es war Isaacs Mutter. Ohne gross nachzudenken, was sie zu dieser Uhrzeit wollte, nahm sie den Anruf entgegen. „Hallo, was ist denn los?“ fragte sie mit ruhiger Stimme, doch in der Sekunde, in der sie die Worte hörte, schien die Welt um sie herum stillzustehen.
„Isaac hatte einen Unfall“ sagte seine Mutter mit zitternder Stimme.
Die Minuten danach verliefen wie in Blitzschnell. Sie erinnerte sich kaum, wie sie ins Auto stieg, wie sie neben Isaacs Mutter auf dem Beifahrersitz sass, wie sie den Atem anhielt, als sie den Unfallort erreichten. Alles war verschwommen, alles war unreal. Doch als sie ihn da liegen sah, reglos auf dem kalten Asphalt, wurde die Realität grausam klar.
„Isaac“ schrie sie wieder und rannte auf ihn zu. Sie fiel neben ihn auf die Knie, hob vorsichtig seinen Kopf und legte ihn in ihren Schoss, während sie ihn verzweifelt fest umarmte. Sie konnte es nicht glauben, wollte es nicht glauben.
Die nächsten Tage verbrachten sie im Krankenhaus. Ivy war jeden Tag an seiner Seite, hielt seine Hand fest umklammert, als ob sie ihn damit vor dem Schicksal bewahren könnte. Manchmal lächelte er sie an, dieses schwache, dankbare Lächeln, das sie nur umso mehr verzweifeln liess. Sie wollte ihn zurück, den Isaac, der mit leuchtenden Augen und einem breiten Grinsen auf sie zulief. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor.
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