"Yesterday's me" - eine Geschichte von Sonja Käslin - Young Circle

“Yesterday’s me” – eine Geschichte von Sonja Käslin

Member Stories 2020

“Yesterday’s me” – eine Geschichte von Sonja Käslin

Hallo, mein Name ist Elina, heute bin ich hier, um euch meine Geschichte zu erzählen. Es ist eine seltsame Geschichte. Nicht einmal ich selbst kann sie richtig glauben. Eigentlich war mein Leben ganz normal. Ich bin ein 19-jähriges Mädchen, dass an eine Universität geht und mit ihren Eltern in einem kleinen Häuschen lebt. Ganz normal eben. Und meine Geschichte beginnt auch ganz normal, nämlich mit einem ganz normalen Morgen.

Ich kann mich noch genau an diesen Morgen erinnern. Es war ein kühler, aber wunderschöner Morgen. Vor meinem Fenster hat sich eine grosse Tauschicht angesammelt, sodass die ganze Welt in einem verschwommenen Licht vor mir stand. Langsam kroch ich aus meinem warmen Bett und startete den Tag wie jeden anderen. Ich schlich mich in die Küche, da alle noch schliefen und machte mir eine heisse Ovomaltine. Dann machte ich mich fertig und betrachtete mich im Spiegel. Es war ein normaler Anblick. Ein kleines Lächeln zeigte sich auf meinem Gesicht. Ich sah ganz okay aus, aber auf keinen Fall speziell. Trotzdem wird diese Situation später noch wichtiger sein als sie nun erscheint. Glaubt mir, nach dem ihr das gelesen habt, werdet ihr mich verstehen. Ich zupfte meinen Pferdeschwanz zurecht und verliess das Haus. Die kalte Luft stieg mir in die Nase und ich genoss die Ruhe, die noch herrschte. Gerade als ich mir meine Kopfhörer in die Ohren stecken wollte, hörte ich ein Geräusch hinter mir. Ich erschrak kurz und drehte mich um. Das erste was ich sah, war das schräge Lachen von Jack. Er ging früher mal mit mir zur Schule und ich habe ihn schon Jahre nicht mehr gesehen. Wir redeten kurz, doch ich musste los, denn ich war auf dem Weg zur Schule. Also schlug er vor, dass wir uns am Nachmittag im Café treffen können. Ich willigte ein und rannte zur Uni, damit ich nicht zu spät kam. Der Tag verging wie im Fluge und schon sah ich ihn wieder. Eigentlich war er wie früher, aufgestellt, lustig und irgendwie auch ein wenig seltsam. Wir plapperten herum genau wir früher. Es fühlte sich an, als wäre gar keine Zeit vergangen. Darum erzählte er mir auch von seiner «geheimen Beschäftigung». Ich weiss noch genau wie er mir zuflüsterte: «Das klingt jetzt vielleicht total bescheuert, aber ich glaube ich kann in die Vergangenheit sehen. Ich habe das schon bei einigen Personen erlebt. Wenn ich ihnen die Hand gebe, sehe ich innert Sekunden ihr Leben wie in einem Film. Ich habe keine Ahnung was das ist, darum habe ich mich mit dem beschäftigt und ich werde immer besser…» Ganz ehrlich, ich glaubte ihm kein Wort. Das war doch nur wieder einer seiner dummen Scherze, wie früher, oder? «Gib mir einfach deine Hand und ich werde es dir beweisen».  Ich zögerte, weil mich seinen selbstsicheren Gesichtsausdruck verunsicherte, doch ich tat es. Eine kleine Bewegung, die ich bis Heute bereue. Er umschloss meine Hand mit seinen und schloss die Augen. Kurz darauf lächelte er und fragte mich «Wieso hast du mir nie erzählt, dass Jenny nicht deine richtige Mutter ist?» In diesem Moment traf mich ein Schlag, mir wurde schlecht und meine Knie wurden weich. Ich habe das niemandem erzählt…
Jenny ist nur die neue Frau meines Vaters und nicht meine leibliche Mutter. Jedoch hielten wir alle es für eine gute Idee, der Welt zu erzählen, dass sie es ist. Ich wollte, dass sie meine Mutter ist und dies machte diese Lüge auch sehr einfach. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass wir keine «normale» Familie sind. Ich bin mit ihr Shoppen gegangen, sie ist zu den Elternabenden in der Schule erschienen und wir waren immer ein unschlagbares Team.
«Meine leibliche Mutter ist abgehauen als ich Zwölf war. Ich hasse sie heute noch dafür…», ich machte eine lange Pause und meine Stimme wurde leise, «Wieso weisst du über Jenny Bescheid?» Er überlegte kurz was er sagen sollte und erwiderte schliesslich: «Ich kann es dir nicht sagen, es passiert einfach. Aber glaubst du mir jetzt?» Natürlich glaubte ich ihm. Ich meine, er hat gerade mein grösstes Geheimnis ausgeplaudert, als wäre es eine kleine Sache gewesen. Mir war nicht mehr wohl und darum entschuldigte ich mich und stand auf. Wieder stand ich an der frischen Luft. Wie am Morgen stieg mir die kühle Luft in die Nase und dies beruhigte mich ein Stück weit. Mit schnellen Schritten ging ich zurück nach Hause und legte mich in mein Bett. Obwohl es erst 18.00 Uhr war, wollte ich nur noch schlafen. Irgendwann kam mein Vater und rief mich zum Essen, aber mir war der Appetit vergangen. Also liess er mich schlafen und ging wieder nach unten. Doch dies gelang mir natürlich nicht. Meine Gedanken kreisten und ich wurde an mein «dunkles Jahr» erinnert. So nenne ich das Jahr indem meine Mutter abgehauen ist und ich mich total verändert habe. Ich war schon immer ein glückliches und nettes Mädchen. Doch nach ihrem plötzlichen Verschwinden füllte sich mein ganzer Körper mit Wut und Hass. Ich wurde schnell gereizt von allem und hatte auf nichts mehr Lust. Mein Vater war total überfordert und wollte mir helfen, doch mir war nicht zu helfen. Zum Glück kam dann Jenny in unser Leben und wir haben alle zusammen langsam wieder den Weg zurück in ein normales Leben gefunden. Wir sind in eine andere Stadt gezogen und konnten so mit der Vergangenheit abschliessen.

Am nächsten Morgen wachte ich mit meinen Kleidern vom Vortag auf. Kaum war ich wieder zu mir gekommen, erinnerte ich mich an den vergangenen Tag. Es war so beängstigend zu sehen, dass jemand denn ich eine Ewigkeit nicht gesehen habe zurück in mein Leben kommt und alles über meine Vergangenheit weiss. Was ist das überhaupt? Bis zu diesem Nachmittag glaubte ich nicht mal an Leute, die in die Zukunft sehen können. Und nun konnte Jack in die Vergangenheit sehen? Ich wollte es nicht wahrhaben.
Doch wenn ihr glaubt, dass das alles ist, habt ihr euch mächtig getäuscht. Das war erst der Anfang. Auch an diesem Morgen machte ich mich fertig für den Tag. Es viel mir zwar viel schwerer, aber es ging. Auch heute wollte ich am Ende noch ein kurzer Blick in den Spiegel werfen. Ich hatte keine grossen Hoffnungen, aber schliesslich musste ich doch mal mein Aussehen kontrollieren. Also stand ich vor meinen Spiegel und betrachtete mein Ebenbild. In diesem Moment begannen meine Wimpern unbändig zu blinzeln, bis die ganze Welt um mich nur noch flackerte. Ich konnte nichts mehr sehen und fühlen. Nach ein paar Sekunden beruhigten sich meine Augen und ich schaute mich um. Etwas stimmte nicht. Meine Umgebung war ganz normal, alles wie zuvor. Aber mit mir stimmte etwas nicht. Ich schaute mich im Spiegel an. Anstatt einem kleinen Lächeln wie beim letzten Mal, stand mir ein böses ausdrucksloses Gesicht gegenüber. Heute würde ich über mich erschrecken, aber zu diesem Zeitpunkt war es einfach normal für mich. Ihr fragt euch jetzt sicherlich was mit mir los war. Ich kann es euch sagen. Mein Ich aus dem «dunklen Jahr» hat Besitz über mich ergriffen. Ich weiss es klingt total unglaubwürdig. Aber es war wirklich so.

Ich ging zur Schule und bahnte mir wie gewohnt einen Weg in meinen Hörsaal. Es war nicht so, dass ich nichts mehr fühlte und nichts mehr steuern konnte. Aber es war anders. Als Mona, eine Freundin von der Uni, zu mir kam ignorierte ich sie. Ich hatte keine Lust mit ihr zu reden. Wir unterhalten uns sonst jeden Morgen. Darum war sie auch besorgt und wollte mir helfen. Aber ich sagte ihr, dass sie einfach verschwinden soll. So ging es den ganzen Tag. Niemand kannte mich so und niemand konnte es glauben, dass ich so war. Naja, ich war es ja auch nicht, zumindest nicht mein jetziges Ich. Das alles dauerte so lange, bis ich nach der Schule noch kurz auf die Toilette ging und meine Hände wusch. Natürlich wanderten meine Augen zum Spiegel und das Geblitze fing wieder an. Ich musste mich am Lavabo halten, damit ich nicht umfiel. Nach ein paar Sekunden legte es sich wieder und ich atmete tief durch. Ein Mädchen, das neben mir die Hände wusch, fragte mich besorgt, ob mit mir alles in Ordnung sei, oder ob mir übel sei. Ich antwortete freundlich: «Alles gut, danke. Mir war nur ein wenig schwindlig.» Mein altes ich war zurückgekehrt.

Ich realisierte noch nicht ganz was geschah. Aber ich wusste, dass es etwas mit den Spiegeln zu tun haben musste. Also setzte ich mich zu Hause aufs Bett und holte einen kleinen Handspiegel. Ich war nervös und meine Hände wurden feucht. Aber ich musste es versuchen. Also drehte ich den Spiegel langsam in meine Richtung und warf einen zögernden Blick hinein. Nichts. Also schaute ich direkt mit weit geöffneten Augen hinein. Nichts. Auch in alle anderen Spiegel, die ich im Haus fand, schaute ich hinein. Aber es geschah nichts. Also liess ich es dabei, dass der heutige Tag einfach seltsam war, aber ich mir keine Sorgen machen musste. Somit steckte ich das Erlebte so gut wie möglich weg und sprang herunter zum Rest meiner Familie. Also besser gesagt zu meinem Vater und Jenny. Wir assen wie gewohnt. Doch ich war ruhiger als sonst, denn ich wollte nicht von meinem Tag sprechen. Nach dem Essen ging ich auf unser Dach. Dort ist mein geheimer Lieblingsort. Immer wenn ich über etwas nachdenken muss klettere ich dort hinauf und geniesse den Ausblick. Die Nacht war klar und die Sterne glitzerten über mir. Ich hatte Angst vor dem nächsten Tag. Zu jedem der mir etwas bedeutet, war ich heute frech und niemand verstand was mit mir los war. Nicht einmal ich wusste das. Meine Blicke wanderten ohne Ziel durch die Nacht, bis ich müde wurde und entschied ins Bett zu gehen. Zum Glück schlief ich heute schnell ein und erwachte dementsprechend auch wieder glücklicher. In meinem Spiegel sah ich ein breites Lachen und war noch nie so froh darüber. Als ich das Haus verliess, winkte mir Jenny nach. Ich schaute nochmals zurück und lachte sie an.
In der Uni angekommen, trafen mich viele verwirrte und verärgerte Blicke. Niemand wusste, was mit mir los war. Ich war mir unsicher wie ich reagieren sollte. Also lachte ich einfach so gut es ging und hoffte, dass der gestrige Tag einfach schnell vergessen sein wird. Mona kam in schnellen Schritten auf mich zu und wollte wissen was gestern los war. «Ich weiss es nicht Mona, lass es uns einfach vergessen. Okay?», zugegeben war dies eine ziemlich dumme Antwort, aber mir viel nichts besseres ein. Und sie akzeptierte es zum Glück.
Für einen kurzen Moment dachte ich, dass alles wieder gut sei, aber das kann ja nicht das Ende der Geschichte sein…

Auch an diesem Tag huschte ich noch schnell auf die Toilette bevor ich nach Hause lief. Ich dachte mir nichts beim Blick in den Spiegel, die letzten male war ja schliesslich alles normal. Doch nicht bei diesem Spiegel. Ich wollte mich gegen mein Blinzeln wehren. Aber ich war chancenlos. Und da war es wieder, mein dunkles Ich aus der Vergangenheit.
Wütend stapfte ich nach Hause. Mein Vater war noch nicht da. Doch Jenny war da. Sie begrüsste mich und wollte mich fragen wie mein Tag war. «Tu nicht so als würde es dich interessieren. Ich bin dir egal. Das hast du mir genug deutlich gezeigt!» antwortete ich damals. Noch heute tuen mir diese Worte leid. Jenny sah mich fassungslos an und war sprachlos. Das kümmerte mich überhaupt nicht. Ich hetzte nach oben und knallte meine Tür zu. «Ich bringe dich um, irgendwann bring ich dich um!» presste ich aus mir heraus. Mein Blick wanderte durchs Zimmer und schliesslich zu meinem Handy. Dann griff ich danach. Es war ausgeschalten. Auf dem schwarzen Display sah ich, wie sich mein Gesicht spiegelt. Schon ging das Blinzeln wieder los. Ich war wieder normal. Doch der Schock sass mir tief in den Knochen. Wieso will ich Jenny umbringen? Oder besser gesagt, wieso will mein altes Ich sie umbringen?

Diese Fragen stellte ich auch Jack, als ich ihn wieder im selben Café traf. Mit ihm hat das alles angefangen, er musste eine Antwort haben. Doch die hatte er nicht. Aber er vermutete, dass er mit seinem Blick in die Vergangenheit meine dunkle Seite erweckt hatte. Wir reimten die ganze Geschichte zusammen und kamen zum Schluss, dass es etwa so sein muss: Auf irgendeine mystische Weise kann mein altes ich durch einen Spiegel mit mir Kontakt aufnehmen. Jedoch kann ich es wieder verbannen, indem ich wieder in einen Spiegel sehe. Und in diesem ist es dann gefangen. Auf jeden Fall so lange, bis ich wieder in diesen Spiegel hineinschaue. «Das heisst also…es ist jetzt in meinem Handy?» Jack nickte langsam. Und darum wollte er, dass ich nicht mehr auf mein Handy sehe: «Du musst es kontrollieren!» Ich dankte ihm und steckte mein Handy schnell in meine Jackentasche. Jedoch hatte ich auch noch eine andere Frage. Wieso wollte ich Jenny umbringen? Auch hier konnte Jack nur spekulieren: «Sehr wahrscheinlich verwechselt dein Psycho-Ich Jenny mit deiner leiblichen Mutter. Wegen ihr entwickelte sich deine Wut doch überhaupt!» Das war eine passable Erklärung, an die ich noch heute glaube. Doch ich verstehe es bis heute nicht, wieso mir das alles passierte.

Mit neuer Hoffnung schlenderte ich gedankenverloren nach Hause. Eigentlich hatte ich gedacht, dass diese «dunkle Phase» für ein und alle mal vorbei ist. Als wir in die neue Stadt gezogen waren, wollte ich damit abschliessen. Klar hätte mein Leben so weiter gehen können, aber ich habe mich dazu entschieden, diese Seite von mir abzulegen und wieder freundlich und fröhlich zu werden.
Zu Hause angekommen steuerte ich auf Jenny zu und entschuldigte mich. Ich wollte ihr erzählen was los war. Vielleicht würde es mir helfen, habe ich mir gedacht. Also schlug ich einen kleinen Spaziergang vor und öffnete mich ihr. Die Zeit verging und sie hörte mir aufmerksam zu. So weit so gut. Wir liefen und redeten immer weiter, bis wir zu einer Brücke kamen. Mitten im Gespräch wollte ich meine Hände in meine Jackentaschen stecken, da mir kalt wurde. Jedoch hatte ich etwas vergessen, mein Handy war noch dort drin. Ich stiess mit meinen Fingern an das Display und es viel zu Boden. Automatisch sah ich es an und in diesem Moment war es auch schon zu spät. Mein Spiegelbild blitzte auf und Jenny konnte meine Verwandlung live miterleben. Kaum hat mein altes Ich wieder die Oberhand gewonnen, stürzte ich mich auf Jenny. Sie erzählte mir später, dass mein Blick voller Wut war und sie panische Angst hatte. Ich stiess sie bis an das Geländer der Brücke und liess nicht von ihr ab. Jenny hatte Todesangst. Sie hielt sich mit aller Kraft am Geländer fest und versuchte meiner Wucht Stand zu halten. Doch dann kam die rettende Idee. Sie wollte ihren Taschenspiegel holen und ihn mir vor die Augen halten. Zu ihrem Pech war ihre Tasche bei der Rauferei heruntergefallen und lag nun direkt hinter mir. Sie nahm allen Mut zusammen und liess ihre Finger vom Geländer gleiten. Für einen Moment war sie mir machtlos ausgeliefert. Doch sie glitt geschickt unter meinen Armen durch und schnappte ihre Tasche. In einem einzigen Augenblick öffnete sie ihre Tasche und hielt ihren Spiegel in der Hand. Schützend hielt sie ihn in meine Richtung. Ich weiss noch, wie ich sie wieder hochhieven wollte und genau dann sah ich in den Spiegel. Ein weiteres Mal waren meine Augen zum Blinzeln gezwungen. Dann legte sich meine Aufregung und ich war wieder ich selbst. Voller Schock schauten wir uns an und fielen einander erleichtert in die Arme. Dann bückte sich Jenny schnell und warf den Spiegel in den weiten Fluss hinunter. Weit unten zerschellte er an einem Stein und versank im tiefen Wasser. Ich war wieder frei. Mein altes Ich war besiegt.

Von diesem Tag an konnte ich zwar nicht mehr normal in einen Spiegel sehen, aber ich war wieder glücklich und unbeschwert. Meine Vergangenheit war nun endgültig abgeschlossen. Mir war es gelungen von mir selbst zu flüchten. Jack sah ich immer mal wieder und wir blieben befreundet. Aber eines lernte ich aus dieser Geschichte, ich gab ihm nie wieder meine Hand!

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