«Wofür kämpfst du, Gideon?» Die Stimme seiner Schwester hallte in seinem Kopf nach. Gideon sass auf einem harten Sitz, sein Gewehr hatte er wie einen Schatz an sich gepresst.
Der alte Militärlastwagen ruckelte über die staubige Strasse, vorbei an armen Dörfern mit heruntergekommenen Häusern und abgemagerten Hunden. Vorbei an Kindern mit staubbeschmierten Wangen und zerrissenen Kleidern, die dem Wagen mit grossen, leeren Augen hinterhersahen. Ihre Blicke waren furchtsam, leer und stumpf. Beinahe tot erschienen sie Gideon.
Vor vier Monaten hatte er die Nachricht erhalten, dass sein Vater gestorben war. «Ehrenvoll im Krieg gefallen», war auf dem Brief gestanden. Danach hatte Gideon sich in den Kopf gesetzt sich zu rächen. Er würde dafür sorgen, dass auch ihre Feinde ‘ehrenvoll im Krieg fielen’. Er würde ihnen genau das gleiche antun wie sie seinem Vater angetan hatten. Er würde es ihnen heimzahlen. Seine Schwester hatte das nie verstanden. Sie hatte versucht ihn aufzuhalten, ihn zu überzeugen, dass dieser Krieg sinnlos war. Er hatte nicht auf sie gehört.
Gideon schob seine Gedanken und Zweifel beiseite. Jetzt war es zu spät, um umzukehren. Je näher sie der Front kamen, desto stiller wurde es. Die meisten Dörfer waren verlassen. Man sah keine Menschen, keine Tiere. Die Landschaft war gespenstisch still, beinahe ausgestorben.
Endlich wurde der Lastwagen langsamer und kam schliesslich zum Stehen. Die Türen wurden geöffnet. Gideon drängte sich nach vorne und sprang auf den staubigen Boden. Er hatte seine Mission schon erhalten und wusste haargenau, was er zu tun hatte. Nun galt es ernst. Er hatte die Chance sich zu rächen.
Draussen war es laut. Immer wieder zerrissen Schreie, Explosionen und Schüsse die Luft. Der viele Rauch und die Asche machten das Atmen schwer. Gideon versuchte sich zu orientieren. Als er überzeugt war, den richtigen Weg gefunden zu haben, huschte er davon. Zu Fuss legte er die Strecke zu einem der feindlichen Lager zurück. Geduckt hastete er von einer Deckung zur nächsten. Immer weiter und weiter. Durch den dichten Rauch im bestmöglichen Schutz der zerstörten Häuser und kahlen Sträucher lief er durch die Wüste. Bis er schliesslich innehielt und um eine Ecke lugte. Er war da, er hatte es fast geschafft. Jetzt musste er nur noch das richtige Zelt finden. Seine Augen wanderten über die vielen grünen Planen. Da, am rechten Rand stand ein kleines Zelt. Das musste es sein. Auf Zehenspitzen schlich er immer näher. Unentdeckt schlüpfte er durch den Eingang. Gideon öffnete seine Tasche und nahm ein kleines Päckchen heraus. Gerade als er es unter das Feldbett legen wollte, erblickte er ausserhalb der Zeltwand einen Schatten. Alarmiert sprang er auf. Er stopfte das Päckchen zurück in seine Tasche. Flink schlüpfte er unter das klapprige Feldbett. Gideon wagte nicht zu atmen. Er lag flach auf dem Boden und regte sich nicht. Wenn er entdeckt würde, wäre die Mission gescheitert. Er hätte sich selbst, sein Land und seinen Vater enttäuscht. Angespannt lag er da und wartete. Doch nichts geschah. Niemand betrat das Zelt.
Nach einer Weile kroch Gideon vorsichtig unter dem Bett hervor. Er schlich zum Eingang und spähte hinaus. Er sah eine einzelne Frau mit einem Wasserkrug in den Händen. Mit gebeugtem Rücken schleppte sie sich zum Brunnen. In der Mitte das Platztes sah er Kinder. Sie sahen hungrig und verzweifelt aus. Auch die Menschen hier waren vom Schicksal gezeichnet.
Plötzlich kamen in ihm Zweifel auf. Sollte er seine Mission wirklich beenden? Wenn er es tat, würden all diese unschuldigen Kinder sterben. Sie konnten nichts dafür, dass sie hier geboren worden waren, ebenso wenig wie er. Gideon dachte an seinen Vater und die Männer, die ihn getötet hatten. Sie hatten bestimmt nicht gezögert. Auch er durfte jetzt keine Bedenken haben. Sonst würde er es für immer bereuen in dieser Minute schwach geworden zu sein. Er konnte seinen Vater nicht enttäuschen.
Die Menschen da draussen waren selbst schuld, redete er sich ein. Sie versuchten ihm sein Land wegzunehmen. Sie hatten zuerst getötet. Sie hatten diesen Krieg begonnen. Es geschah ihnen Recht.
Hastig trat er zurück ins Zelt. Er musste seinen Auftrag möglichst schnell hinter sich bringen, sonst würde ihn der Mut verlassen. Gideon zog das Päckchen wieder hervor. Mit einer schnellen Bewegung legte er es unter das Bett. Ruckartig drehte er sich um. Seine Entscheidung war gefallen.
Unentdeckt eilte er aus dem Zelt. Er rannte ein Stück durch die Wüste, ohne sich noch einmal umzudrehen. Dann blieb er keuchend stehen. Ein ohrenbetäubender Knall erfüllte die Luft. Staub wurde aufgewirbelt. Gideon schloss die Augen. Er hatte es geschafft. Seine Mission war geglückt. Das feindliche Lager zerstört. Doch zu welchem Preis?
Niedergeschlagen sank er in den roten Sand. Es war schon dunkel geworden, als Gideon plötzlich aufschreckte. Er musste eingedöst sein. Jemand berührte ihn leicht an der Schulter. Gideon zuckte zusammen. Vor ihm stand ein kleiner Junge. Mit grossen Augen sah er zu ihm auf. «Was willst du?», fragte Gideon barsch. «I..i…ich suche meinen Vater», stotterte der Junge. «Er war im Lager, doch jetzt ist dort alles zerstört und ich kann ihn nirgends finden. Weisst du vielleicht, wo er ist?» Gideon schüttelte den Kopf. Er betrachtete den kleinen, unschuldigen Jungen. Was hatte er bloss getan? «Es tut mir leid, aber ich glaube dein Vater lebt nicht mehr», murmelte Gideon betroffen.
Der Junge sah zu ihm auf. Eine Träne rann über seine Wange, doch dann wurde sein Blick starr und wütend. «Das werde ich ihnen heimzahlen. Ich werde mich rächen!», heulte der Junge. Dann stürmte er davon. Bestürzt sah Gideon dem Jungen hinterher, bis er in der staubigen Landschaft verschwunden war.
Verloren und hoffnungslos stand Gideon im Sand. Er hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Er war zum Mörder geworden. Die Geschichte drehte sich im Kreis. Es spielte keine Rolle, wer angefangen hatte, wer zuerst getötet hatte. Es litten alle und die Kinder am allermeisten.
Seine Überzeugung für sein Land und seinen Glauben zu kämpfen, war längst verschwunden. Immer wieder dachte er an die letzten Worte seiner Schwester: «Wofür kämpfst du, Gideon?» Er wusste es nicht.
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