"Wo war ich nur" – Eine Geschichte von Anja Meier - Young Circle

«Wo war ich nur» – Eine Geschichte von Anja Meier

Member Stories 2024

«Wo war ich nur» – Eine Geschichte von Anja Meier

Lea rennt verzweifelt zu ihrer Freundin Elli, nachdem sie eine alarmierende Nachricht erhalten hat. Während sie erleichtert feststellt, dass Elli lebt, bricht ihre Welt kurze Zeit später zusammen: Ihre Freundin Rose hat sich das Leben genommen, und Lea wird von Schuldgefühlen überwältigt. Inmitten des scheinbaren Glücks lauert die Tragödie – und das Gefühl, nicht genug getan zu haben.

Glück?

Noch nie in meinem Leben bin ich so schnell gerannt. Die Häuser fliegen an mir vorbei und der Schweiss fliesst in Strömen aus meinen Poren. Ohne Luft zu holen, sprinte ich das Treppenhaus hinauf in den drittten Stock und krame hektisch nach meinen Schlüsseln. Mit zitternder Hand stecke ich den Schlüssel ins Schloss, drehe ihn zweimal nach rechts und stürze, ohne mir die Mühe zu machen meine Schuhe auszuziehen, direkt auf Ellis Zimmer zu.

Vor zwanzig Minuten hat sie mir eine Nachricht gesendet mit den Worten: „Danke das du immer hier warst Lea, hab dich lieb“. Ich habe exakt zweiunddreisig Mal angerufen, während ich meinen Bus verpasst habe und darum einen halben Marathon hingelegt habe. Elli hat mir vor einem Jahr anvertraut das sie unter starken Depressionen leided, sich selbst verletzt und schon Selbstmordgedanken hatte. Ich habe alles getan, was ich konnte, um ihr zu helfen. Ich habe sie überzeugt zwei Mal pro Woche in Therapie zu gehen, sie gezwungen bei mir und Rose einzuziehen, habe ihr eine ganze Sammlung von beruhigenden Ölen gekauft und rufe sie mindestens zweimal täglich an. Einmal habe ich sie gefragt, ob es einen Auslöser für ihre Depression gab. Ich war verwundert, es machte für mich keinen Sinn, ich habe keinen Teil ihres Lebens gefunden der unglücklich machen könnte. Nüchtern hat sie mir geantwortet: „Lea, manchmal braucht man keinen Grund, um traurig zu sein, es hat keinen direkten Auslöser gegeben, es hat mich einfach überfallen. Und so sehr du mir auch geholfen hast und mir immer noch hilfst, ich bin die Einzige die wirklich etwas dagegen unternehmen kann.“ Sie hat mich traurig angelächelt und sich abgewendet.

Jetzt stehe ich vor einer verweinten, aber lebenden Elli. Ich stosse einen zittrigen Atemzug aus und nehme sie fest in den Arm. Sie schluchzt in meine Schulter und ich drücke sie noch enger an mich. Während meine Hysterie nachzulassen beginnt, höre ich wie die Haustür aufgezogen wird und uns wenige Sekunde später eine lächelnde Rose entgegenblickt. Als sie den Zustand sieht, in dem sich Elli befindet, verschwindet ihr Lächeln und sie schliesst sich unserer Umarmung an. Nachdem wir uns alle einigermassen beruhigt haben, verschieben wir uns in die Küche und ich mache uns allen eine Tasse heissen Chai mit Milch und Zucker, den wir schweigend schlürfen.

Die nächsten Wochen verlaufen wie all die letzten Wochen zuvor. Ich gehe zur Uni, Elli erledigt ihre Arbeit und Rose pendelt zwischen Uni und Job. Freitag abends gehen wir feiern, Sonntag morgens brunchen wir und Mittwoch nachmittags picknicke ich mit Rose. Ich habe das Gefühl wir sind alle glücklicher als ein paar Wochen zuvor. Ich meine, wer weiss was Glück wirklich ist? Aber der Frühling naht und die ersten Blüten beginnen schon zu spriessen, sie stechen aus der noch kargen Landschaft heraus wie eine zuversichtliche weisse Lilie in einem Feld aus tödlichen Narzissen, es scheint fast als rufe sie: „Gebt nicht auf, der Frühling steht vor der Tür“. Mein Hochgefühl bestätigt sich, denn an diesem Freitagabend sitzen wir versammelt um den Küchentisch und blicken Elli erwartungsvoll an. Breit grinsend sieht sie uns an und quikt dann vor Aufregung: „Meine Therapeutin hat gesagt ich muss nur noch einmal in der Woche zu ihr gehen, sie hat gesagt ich habe Riesenfortschritte gemacht und bin jetzt nicht mehr Selbstmordgefärded.“ Ich springe auf mache ein kleines Freudetänzchen durch die Küche und die beiden schliessen sich mir an. „Das ist ein Grund feiern zu gehen, seit ihr dabei?“, ruft Rose übermütig. Aus Ellis Mund kommt ein begeistertes „Ja“, sie tanzt aber weiter. Seltsam, Rose ist normalerweise die, die überzeugt werden muss mitzukommen. Schnell verwerfe ich den Gedanken, Rose will einfach kein Stimmungskiller sein.

Keine zwei Stunden später tanzen wir Rücken an Rücken in einem überfüllten Club gleich um die Ecke, ich und Elli je mit einem Glas Vodka-Lemon in der Hand und Rose überraschenderweise mit einer Cola.  Wir tanzen, bis uns die Füsse weh tun und unsere Stimmen heiser sind. Ich lasse mich von einem Typen umgarnen und lasse Rose und Elli mit einem breiten Lächeln zurück. Alles ist perfekt.

Der nächste Morgen schickt mich zurück in die Realität. Ich liege in einem fremden Bett und mein Handy vibriert unaufhörlich. Stöhnend schiebe ich den Arm von dem Typen weg und nehme plötzlich hellwach das Telefon entgegen. „Ja? Elli, alles gut?“, frage ich panisch. Ich höre ein Schluchzen am anderen Ende der Leitung. In mir versteift sich alles. „Elli?“Ich bekomme nur eine stotternde Antwort: „Du…mumusst…… nach Hause… kkomen.“ Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, ich springe wortwörtlich aus dem Bett, ziehe mir im Gehen meine Klamotten über und renne. Das gibt mir ein Flashback, letztes Mal ist alles gut gegangen, kann man zweimal Glück haben?

Nein, nein kann man nicht. Ich stürme in die Wohnung. Elli ist nicht in ihrem Zimmer. Ich renne weiter, auch nicht in meinem Zimmer. Ich stosse Roses Tür auf und erstarre augenblicklich zu einem Eisblock. Auf dem Boden liegt Rose.Keine lebendige, glückliche Rose. Eine tote Rose. An ihrem Handgelenk ein sauberer Schnitt, ihre Augen geschlossen. Ich schaue zu der verweinten Elli. Dann schreie ich. Ich schreie mir die Seele aus dem Leib. Ich schreie bis meine Stimme versagt. Ich schreie, bis ich keine Luft mehr bekomme. Wie konnte das geschehen? Ich dachte sie sei glücklich. Ich habe ihr zu wenig Beachtung geschenkt, ich war nicht für sie da. Ich bin schuld, verdammt ich bin schuld. Ich habe es nicht gesehen. Schweigend gibt Elli mir ein Stück Papier.

Lea,
du bist der herzensbeste Mensch, den ich kenne. Ich weiss, du hättest mir mit allem, was du hast, geholfen, aber du konntest nichts für mich tun, ich habe es selbst nicht hinbekommen. Gib dir nicht die Schuld, hab dich lieb.
Rose

Tränen laufen mir über die Wangen, dieses Leben ist so verdammt unfair. Was hat sie dieser Welt getan? Wieso nicht ich? Wieso nicht der Baarkeeper von gestern Abend? Wieso, wieso, wieso. Aber ich kann nichts dagegen tun, niemand kann das und niemand wird das je können.

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