Mit einem leisen Klicken schloss sich die Wohnungstür hinter ihm. Mit der Hand tastete er nach dem Lichtschalter. Grell erstrahlte die Glühbirne. Er liess seine schwarzen Lackschuhe mitten im Flur stehen, zu müde, um sie zu versorgen. Ein anstrengender Arbeitstag lag hinter ihm. In der Küche angekommen, öffnete er als Erstes den Kühlschrank. Er hatte den ganzen Tag keine Pause gehabt und seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Während die Resten des Vortages in der Mikrowelle ihre Runden drehten, schaute er aus dem Küchenfenster. Draussen war es dunkel. Das Einzige, was er sah, war seine eigene Reflexion in der dunklen Scheibe. Mit einem Mal war es, als hätte er etwas gehört. Er ging zurück in den Flur. In dessen Mitte lagen noch immer die Schuhe. Seine Aufmerksamkeit lag aber auf dem Brief, eingeklemmt unter der Sohle. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass der zuvor nicht dagelegen hatte. Ein lautes Pling riss ihn aus der Starre, in die er verfallen war, ohne es zu merken. Mit dem Briefumschlag in der Hand lief er zurück in die Küche. Er war weiss und weder seine Adresse noch der Adressat standen darauf. Ein ungutes Gefühl überkam ihn und mit einer raschen Bewegung riss den Umschlag auf. Mit zitternden Händen zog er ein einzelnes Papier daraus hervor. In schwarzen Lettern stand ein einziger Satz: «Früher oder später holt dich die Vergangenheit immer ein!». Träge segelte das Papier zu Boden, während er in verzweifeltem Schluchzen ausbrach.
Er konnte sich noch so gut daran erinnern. Er hatte es geschafft: Seine Ausbildung zum Anwalt war vorbei. Und er hatte nicht nur bestanden, er hatte mit der vollen Punktezahl brilliert. Es dauerte nicht lange, bis er seine erste Stelle bekam. In eine angesehene Kanzlei, mitten in der Stadt. Kurze Zeit später übernahm er seinen ersten Fall. Es war nichts Grosses. Nichts, worüber die grossen Zeitungen einen Artikel verfassen würden. Ein Nachbarschaftskonflikt. Zwei Nachbarn, von denen der jüngere dem älteren wiederholt durch den Garten gelaufen war. Der ältere Herr zeigte den Jüngeren an. Seine Aufgabe war es, den jüngeren zu verteidigen. Wie schon gesagt, ein so banaler Fall, dass er eigentlich auch mit einem Mediator hätte geklärt werden können.
Er traf seinen Klienten zum ersten Mal an einem Donnerstagmorgen. Gut konnte er sich daran erinnern. Levi Bauer war ein attraktiver Geschäftsmann Ende dreissig. Für sein bescheidenes Alter hatte er schon eine ganze Menge Geld auf dem Konto. Das konnte er nur schon daran erkennen, wie Levi lief. Immer mit geradem Rücken und grossen Schritten. Levi kam zu ihm ins Büro, sie klärten das meiste schon bei diesem ersten Treffen. Eine Unterschrift hier, eine Unterschrift dort. Levi hatte eine starke Begründung, wieso er das Gelände seines Nachbarn mehrere Male durchritten hatte. Sein Hund war ihm davongelaufen. Levi erklärte sich auch dazu bereit, eine Entschädigung an seinen Herrn Nachbarn zu bezahlen, für allen möglichen Schaden, der entstanden sein mag. Der Fall schien schon so gut wie gewonnen.
Es war am Abend vor dem Verhandlungstag, als er bemerkte, dass ihm doch noch einige Unterschriften vergessen fehlten. Also fuhr er spätabends zu seinem Mandanten. Etwas überrascht öffnete dieser ihm die Tür. Während Levi im Haus verschwand, um einen Stift zu holen, trat er ein. Draussen war es bitterkalt, ein eisiger Januarswind tobte. Sein Blick glitt durch den Raum, der vor ihm lag. Eine alte Kommode, die links neben ihm an der Wand stand, erweckte seine Aufmerksamkeit ganz besonders. Sie passte nicht hierher. Das Holz war alt und schäbig. Aus einem Impuls hinaus, öffnete er die Schublade. Noch heute konnte er sich nicht erklären, wieso er das an jenem Abend getan hatte. Die Schublade war bis an den Rand gefüllt. Gefüllt mit Säckchen voller weissem Pulver. Es war eine Situation, wie sie in jedem schlechten Krimi vorzufinden war. Natürlich kam genau in diesem Moment Levi in den Raum. Natürlich hatte er eine Waffe in der Hand. Natürlich hatte er Angst vor ihm. Er war sich sicher, dass er sterben würde.
Tat er nicht. Stattdessen bot ihm Levi Geld an. Eine grosse Menge. Er musste es doch annehmen. Es blieb ihm keine andere Wahl, oder? Er hätte ihn sonst getötet. Es war ja nicht so, dass er das Geld wollte. Dass er sich später davon eine grössere Wohnung mitten in der Stadt gekauft hatte. Auch hatte ihm das Geld keinen Vorteil in der Kanzlei verschaffen. Es hatte nichts damit zu tun, dass er kurz danach mehrere Tritte auf der Karriereleiter nach oben gestiegen war. So war es nicht. Redete er sich über alle diese Jahre hinweg ein. Als er nun so weinend in der Küche stand, wurde ihm klar, dass jemand alles herausgefunden haben musste. Er steckte bis zum Hals im Dreck, und er hatte keine Ahnung, wie er sich daraus befreien sollte. Seine Vergangenheit hatte ihn eingeholt.
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