Letzten Donnerstag
Ich schliesse weinend meine Augen und mein Atem zittert, als ich sie wieder öffne. Nun steht er bei der Tür. Sein Blick ist leer und es tut verdammt weh. Er verlässt den Raum. Die Tür hinter ihm knallt laut ins Schloss. Dann ist es still. Totenstill.
2 Jahre davor
«Ja, ich will.» Ein breites Lachen streckt sich über ihre Gesichter. «Und möchten Sie, Fenja Dalia O’Neill, mit Sarah Abbie Calmbach die Ehe eingehen?» «Ja, ich will.» Alle um mich herum beginnen zu jubeln und applaudieren, während sich das Brautpaar küsst. Ich klatsche einfach mit, als würde ich sie kennen.
Mit einem breiten Lachen im Gesicht schaue ich mich um. Was mache ich eigentlich hier?
Die Aussicht ist atemberaubend. Das Grün der Wiese leuchtet und die Wellen toben auf dem Meer. Irland! Genau so habe ich mir die Landschaft hier vorgestellt. Etwas im Hintergrund steht ein riesiger, wunderschön gedeckter Tisch. Überall hängen Lichterketten und Blumen dekorieren das ganze Gelände.
Ein Weg, der mit Blumen gekennzeichnet wurde, führt über die Wiese bis nach vorne zu einem Tor aus grünen Ästen und Zweigen. Hier werden später sicherlich Fotos gemacht. Der Moment erinnert mich daran, warum ich so gerne auf Hochzeiten gehe. Es sind die schönsten Orte und Tage und das Allerbeste ist, dass die Menschen glücklich sind. Ich sehe kaum wo sonst, so viele lachende Gesichter, wie hier.
Mein Blick fällt nach vorne, wo ein junger Mann, vielleicht Anfang zwanzig, neben dem Brautpaar steht. Es sieht aus, als wäre er der Trauzeuge. Sein weisses Hemd und die beigen Hosen passen gut zu seinen dunklen, leicht gelockten Haaren. Als mein Blick auf seine weissen Sneaker fällt, muss ich schmunzeln. Ich sehe wieder auf und merke, dass er mich beobachtet. Schnell schaue ich weg.
Gerade stehe ich neben der Getränkebar, als mein Handy klingelt. Ich nehme es aus der Tasche und schaue aufs Display. Meine Mutter. Schnell stecke ich es zurück.
«Hey», ich schaue auf. Er hält ein Glas in der Hand. Darin schwimmen Beeren und ein Schnitz Zitrone dekoriert den Rand. Es ist der junge Mann von vorhin. Er lächelt. «Hey», erwidere ich, allerdings etwas verspätet. «Ich habe dich vorhin gesehen und wollte nur kurz hallo sagen.» Er sieht mir direkt in die Augen. Ich wollte nur kurz hallo sagen? Mir? Mein Herz klopft etwas schneller als es sollte. Als ich nichts sage, redet er weiter «Ich glaube, ich habe dich noch garnie gesehen. Woher kennst du Sarah und Fenja?» Mit seiner Frage reisst er mich aus meiner Starre und ich muss mich Räuspern. «Ähm… ich bin… äh… Sarahs Schwester», lüge ich, «und du?» Shit, warum stottere ich so? Sein Grinsen wird breiter bevor er «ihr Bruder» antwortet. Fuck! Das war wirklich die dümmste Antwort. Mehr als ein kleinlaute «Oh…» bringe ich nicht zustande. «Freut mich dich kennenzulernen, Schwester. Ich bin Jere.» Nun prustet er los. Ich ergreife seine ausgestreckte Hand «Ylva» stelle ich mich vor. Sein Lachen steckt mich an.
Im Hier und Jetzt
Meine Füsse baumeln über dem Abgrund. Die Tränen fliessen und mir ist kalt, obwohl es ein warmer Sommerabend ist. Kurz huscht mir der Gedanke durch den Kopf, einen halben Meter weiter nach vorne zu rücken und mich dem freien Fall zu überlassen. Wäre ich dann tot? Wären wir dann tot? Reflexartig rutsche ich einen Meter weiter zurück. Mein Bauch ist mittlerweile ziemlich gross geworden. Sanft lege ich meine Hände darauf, als die Kleine sich streckt. Ich fühle sie und schliesse meine Augen. «Ylva!» Die laute Stimme reisst mich aus meinen Gedanken. Der Moment ist vorbei. Ich wische mir mit dem Ärmel über die Augen, bevor ich mich umdrehe, obwohl ich die Stimme kenne. Jeremiah kommt auf mich zu. «Hier bist du. Ich habe dich gesucht.» Er ist ziemlich ausser Atem. Als er mein Gesicht sieht, wird er ernst. Jetzt sieht er besorgt aus. «Hey», er lässt sich neben mich ins Gras fallen. «Was ist passiert?» Meine Gefühle und Emotionen überfordern mich. Ich beginne wieder zu Weinen. Mein Kopf will ihn wegschubsen, ihn anschreien und sagen, dass er wieder verschwinden soll. Aber mein Herz ist anderer Meinung. Ich bin einfach nur froh, dass er hier ist. Er ist hier bei mir und hält mich. Er hält uns.
«Ich…», meine Stimme zittert. Die Tränen kommen wieder. Er rückt näher zu mir und legt mir seine Hand auf den Rücken. Automatisch lege ich mein Kopf auf seiner Schulter ab. «Ich…», versuche ich es erneut, «war bei meiner Mutter.» Er atmet scharf ein. Seine Muskeln spannen sich an. «War sie das?» Er braucht es nicht zu sagen, ich weiss, dass er die blauen Flecken meint. «Ja.» Ich nicke. «Als ich ihr gesagt habe, dass ich schwanger bin, ist sie ausgetickt.» Auf seinem Pulli bildet sich ein kleiner See meiner Tränen. Sanft stützt er sein Kopf auf meinem ab und drückt mir ein Kuss aufs Haar. «Ich kann das alles nicht, Jere. Ich schaffe das nicht allein», schluchze ich. «Ich weiss. Ich weiss.» Seine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern.
«Es tut mir so leid, Ylva! Ich schäme mich so sehr dafür, dass ich gegangen bin. Ich war überfordert mit der Situation und habe vergessen, dass es für dich auch nicht einfach ist. Es tut mir so leid!» Nun rollt auch ihm eine Träne über die Wange. «Wir schaffen das zusammen. Alles.»
Sanft hebe ich meinen Kopf und schaue zu ihm hoch. «Ich liebe dich, Jere.» Als sich unsere Blicke treffen, sagt er «Ich liebe dich auch, Ylva.» Ich drücke ihm ein Kuss auf die Lippen und stehe auf. Meine Hände strecke ich zu ihm runter, als stummes Angebot ihn hochzuziehen. Gemeinsam gehen wir ein Stück. Hand in Hand. Genau so, wie immer. «Wir werden Eltern!» Er klingt stolz, ich lächle. «Ich bin froh, dass du da bist.» Tief drin bin ich davon überzeugt, dass wir gemeinsam jede Hürde nehmen und jedes Ziel erreichen können. «Ich auch!»
Ich freue mich auf unsere Tochter und das Abenteuer, das kommen wird.
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