Weiss, alles weiss. Keine Farbe. Nur Weiss. Und das schon mein ganzes Leben lang. Ich hatte nie die Chance, eine Lieblingsfarbe zu haben. Nie konnte ich während einer lauen Sommernacht spazieren gehen, mit meinen Freundinnen ins Kino gehen oder fettiges Fast Food essen. Nein, ich musste in meinem Zimmer bleiben, war dazu verdammt. Ich wusste nicht, wie es ausserhalb unseres Hauses aussah. Die einzigen Leute, die ich kannte, waren meine Mutter, mein Bruder und meine Ärztin. Eine Ärztin brauchte ich, da ich eine stark ausgeprägte Allergie hatte, die es mir nicht ermöglichte, auch nur das Fenster zu öffnen. Ich hatte eine Sonnenallergie. Sie ist selten, und ich habe eine tödliche Form davon. Dadurch musste ich mein ganzes Leben in meinem Haus verbringen. Mein Immunsystem war so schlecht, dass ich, selbst wenn ich die Allergie nicht gehabt hätte, nie das Haus verlassen hätte können, weil ich sofort krank geworden wäre. Deshalb wurde unser Haus jeden Tag aufs Neue gereinigt, alles war steril und weiss. Und mein Leben wäre auch so geblieben, hätte ich nicht an jenem nebelverhangenen Tag aus dem Fenster geschaut.
Denn dort sah ich sie. Sie war perfekt, ihre braunen, leicht lockige Haare flossen ihren Rücken herunter. Sie hatte einen hellbraunen Teint und trotz der kalten Jahreszeit Shorts und ein langärmliges T-Shirt an. Es klingt jetzt vielleicht schnulzig, aber in diesem Moment wusste ich, dass ich nie mehr einen solchen Menschen wie sie treffen würde. Ich hatte schon des Öfteren das Fenster öffnen wollen, doch diesmal war der Drang so immens, dass es all meine Kraft brauchte, um nicht zu ihr auf die Strasse zu laufen. Und dann war sie aus meinem Blickfeld verschwunden. Tagelang schaute ich aus dem Fenster, nur um sie zu sehen, doch sie kam nicht.
Es waren beinahe zwei Monate vergangen, doch dann tat sich etwas. Im Haus gegenüber zog ein Mädchen mit ihrer Familie ein. Sie. Am selben Abend klingelte es an unserer Tür. Meine Mutter machte auf. Es waren unsere neuen Nachbaren, die sich vorstellen wollten, doch meine Mutter versuchte, sie höflich zu verscheuchen, ohne ihnen zu sagen, dass ich eine Allergie hatte, da sie wusste, dass ich es nicht an die grosse Glocke hängen wollte. Vor allem schickte sie sie weg, weil sie einen Virus haben könnten. So kam es, dass kurz nachdem die Türe zugemacht worden war, jemand mit Steinen an mein Fenster warf. Ich schaute aus dem Fenster, um zu überprüfen, und sah, dass ein Fenster des Nachbarhauses offenstand und sie im Fensterrahmen. Mit einem Filzstift schrieb sie auf das Fenster: Hallo! Und wischte es wieder weg. Danach: Wie heisst du? Ich heisse Emilia. Schnell schnappte ich mir einen Stift und schrieb: Ich heisse Lia. Wie alt bist du? Ich bin 17. Sie antwortete: 18. So ging das Ganze noch ein bisschen weiter, und ich erfuhr auch noch über sie, dass sie gerne Basketball spielte, zeichnete, Anwältin werden wollte und eine grosse Leidenschaft für Fantasy Romane hatte. Danach schrieb sie etwas, das sie nie hätte schreiben sollen: Wollen wir einmal zusammen an den Strand gehen? Ich hätte den Vorhang ziehen sollen oder schreiben, dass ich ins Bett muss, aber ich habe Ja geschrieben.
Von da an schreiben wir jeden Tag miteinander, und irgendwann fragte Emilia mich, warum ich das Haus nie verlassen hätte. Und dann erzählte ich es ihr. Eine Weile lang schrieb sie nichts. Ich dachte schon, sie sei eingeschlafen, als sie schrieb: Kann ich etwas für dich tun? Völlig überrumpelt schrieb ich: Du könntest vorbeikommen.
Und tatsächlich erlaubte meine Mutter, nach eingehender Prüfung von Emilias Gesundheitsakte einen Tag später, dass wir uns treffen könnten, allerdings nur für zehn Minuten. Als Emilia hereinkam, hielt ich für eine kurze Zeit den Atem an. Sie war von nahem noch schöner als von weitem. «Also, kein Körperkontakt», mahnte meine Mutter uns. Dann liess sie uns allein. Eine Weile blieben wir stehen, doch dann setzten wir uns. Dadurch wurde unser Schweigen gebrochen, und wir fingen an, über meine Allergie zu reden. Ich schaute auf die Uhr, noch eine Minute. Ich nahm all meinen Mut zusammen und sagte ihr: «Ich würde gerne einmal ans Meer fahren.» Emilia wollte gerade etwas erwidern, als der Wecker klingelte. Sie stand auf und ging zur Zimmertür, für einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, sie wollte etwas sagen, aber dann schloss sie die Türe.
Als an diesem Abend Steine an mein Fenster geworfen wurden, war ich bereit und schrieb: Lass uns morgen an den Strand fahren. Mehr nicht, und obwohl ich wusste, wie leichtsinnig das Ganze war, und ich nicht mehr lebend aus dieser Sache herauskommen würde, bereute ich meine Entscheidung nicht. Ich wollte mein Leben nicht mehr eingesperrt verbringen und noch ein letztes Abenteuer erleben. Aber nicht ohne sie, noch nie hatte ich diesen grossen Drang verspürt, jemandem nahe zu sein, als jetzt. Das erneute Steingeprassel gegen mein Fenster weckte mich aus meiner Trance. Mit rotem Stift hatte Emilia geschrieben: Bist du wahnsinnig? Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Lautlos formte ich mit Lippen ein Ja. Dann zog ich den Vorhang und schlief mit der Vorfreude auf den nächsten Tag ein.
Diesmal war ich die Person, die mit Steinen gegen ein Fenster warf. Verschlafen öffnete Emilia ihr Fenster und erstarrte, als sie meine Nachricht las: Bist du bereit? Mit zittrigen Fingern schrieb sie: Wann immer du willst. Ich ging runter in die Küche, um meine Mutter und meinen Bruder zu suchen, ich fand sie im Wohnzimmer. Als ich ihnen erzählte, was ich beschlossen hatte, hatte meine Mutter Tränen in den Augen. Doch sie wusste, dass ich mich nicht mehr von meinem Plan abbringen liess. Sie umarmte mich ein letztes Mal und dann betrat ich die neue Welt.
Der Weg bis zum Strand verging schnell. Schon jetzt verspürte ich einen starken Juckreiz, doch als ich mich auf die ausgebreitete Decke legte und Emilia in die Augen schaute, vergass ich alles für einen Moment, dann küsste ich sie. In mir explodierte ein Feuerwerk der Emotionen. Ich war glücklich. Und dann spürte ich nichts mehr.
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