Unter dem kleinen Fenstersims vor ihrem alten Kinderzimmer entdeckte sie die Scherben. Die Scherben, die ihr früher noch Schmerzen zuzuführen vermochten und jetzt lediglich das waren, was sie nun einmal waren; Scherben. Die Scherben gehörten zum Rahmen des Spiegels im kleinen Bad, das sie direkt durch einen niedrigen Bogendurchgang von ihrem Zimmer aus hatte erreichen können. Sie hatte den Rahmen selbst mit zerbrochenem Glas, Sand und Muscheln geschmückt, als sie elf Jahre alt gewesen war.
Sie erinnerte sich nicht daran, wie die Scherben hierhergekommen waren. Vielleicht an dem Tag, als sie den Spiegel zerbrochen hatte. An dem Abend als noch so viel mehr zersprang als der Spiegel. Es war ihr neunzehnter Geburtstag. Ein wenig mehr als sieben Monate waren seit dem Tod ihres Grossvaters vergangen. Auch an diesen Abend mahnten sie die Scherben. Er war an einem Winterabend gestorben. Sie war nicht Zuhause gewesen, obwohl sie es versprochen hatte. Sie hatte den Abend lieber mit Spar und Anne in Annes Apartment am Stadtrand verbracht und einen Weihnachtsfilm nach dem anderen geschaut. Dabei Plätzchen gebacken und laut und ziemlich schräg die Lieder mitgesungen, die durch die Soundanlage des Fernsehers dröhnten und die ohnehin schon schnulzigen Filme mit noch mehr Weihnachtskitsch versahen. Innerlich hatte sie gewusst, dass es passieren würde, vielleicht sogar geahnt, dass es in jener Nacht geschehen würde. Vermutlich war sogar genau das der Grund gewesen, warum sie nicht nach Hause gewollt hatte. Nach Hause, seit sie Anne kannte, war sie ihr Zuhause geworden, sie, Spar und das kleine Apartment im achten Stock, zu dem es zwar einen Aufzug gab, der jedoch so alt war, dass er Mila all zu unsicher schien. Ihr Misstrauen war so gross, dass sie jedes Mal die Treppen nahm, egal wie schwer sie schleppte.
Genauso auch an diesem Abend. Sie hatte die Treppen genommen, war, da sie weder den dicken Wintermantel noch die Mütze ausgezogen hatte, leicht schwitzend und etwas missgestimmt mit einer grossen Einkaufstasche vor Annes Tür angekommen. Mittlerweile konnten die beiden bereits das dritte Blech voll mit duftenden Weihnachtskeksen aus dem Ofen holen. Der Küche sah mensch an, dass die beiden jungen Frauen lieber naschten, als sich in den Wartezeiten mit lästiger Putzerei aufzuhalten. Mehl lag überall verstreut und bildete eine feine weisse Schicht, die sich über die ganze Arbeitsfläche, Teile des Bodens und die Gesichter der beiden verteilte. Die ausgelassene Stimmung, die an diesem Abend das Apartment von Anne erfüllte, fühlte sich an wie ein Protest, wie eine Weigerung Milas, die leise Stimme in ihrem Inneren wahrzunehmen. Zu begreifen, was geschehen würde, was nicht vermeidbar war.
Mitten in der Nacht wachte Mila auf, weil Anne sie wieder und wieder an der Schulter berührte und leicht schüttelte. «Hey, alles okay?», flüsterte Anne. Erst in diesem Moment nahm Mila die Tränen, die stumm über ihre Wangen flossen, wahr. Bemerkte die Panik, die sich in ihrer Brust breitmachte und die Wut, die in ihr Aufstieg und sich gegen sie selbst richtete. Sie war sich sicher, sie hatte die letzte Möglichkeit verspielt, ihm ein letztes Mal sagen zu können, wie sehr sie ihn liebte. Lediglich aus reiner Angst, sich für immer verabschieden zu müssen von dem Menschen, der als einziger gut zu ihr war, als einziger da gewesen war, als sie als Kind niemenschen gehabt hatte. Sie wurde von Schluchzern geschüttelt, liess sich nicht durch die leisen und vermutlich beruhigend gemeinten Worte Annes davon abhalten aufzuspringen. In ihrem Schlafanzug mit dem Rentier auf der Brust und nur in Pantoffeln und in ihrer Jacke, verliess sie die Wohnung.
Sie stieg, ohne sich lange mit Eiskratzen aufzuhalten, in den blauen Mini, den sie von Opa Heinrich zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Er war gebraucht gekauft und das sah mensch, aber Mila wusste, wie lange Opa Heinrich gespart hatte, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Sie hatte das Fahren rasch gelernt, schien eine richtige Begabung dafür zu haben und genoss die Unabhängigkeit, die ihr das Auto ermöglichte. In dem Moment jedoch konnte sie die Fahrt nicht wie sonst geniessen. Sie fühlte sich wie betäubt, und sie hörte auf zu fühlen, war innerlich leer, taub und fühlte sich leblos. Ebenso leblos wie sie sich fühlte, musste sie ihren Grossvater auffinden, der nicht in seinem eigenen Bett entschlafen war, sondern sich wahrscheinlich mit letzter Kraft in ihr Zimmer geschleppt hatte, wohl nur um nach ihr zu sehen. Er hatte feststellen müssen, dass das Bett unberührt war. Was hatte er gefühlt, was waren seine letzten Gedanken, seine letzten Worte an sie, die nicht da war, gewesen? Hatte er Wut verspürt? Nein! Vermutlich nicht, dachte Mila, er konnte ihr nie lange böse sein. Er muss enttäuscht gewesen sein, und diese Gewissheit, dieser Gedanke war schlimmer als alles andere. Sie schrie nicht, kniete sich nur nieder und weinte, liess sich von den stummen Schluchzern durchschütteln, verharrte so, bis Anne sie von der Seite umarmte, ihr Gesicht zu sich drehte und sie eng an sich zog.
Eine Woche später fand die Beerdigung statt. Niemensch blieb lange, dafür war es einfach zu kalt, der Boden war so gefroren, dass es eine mühselige Arbeit hatte gewesen sein müssen, das Grab auszuheben. Das Leben ging weiter, und doch war nichts wie zuvor, wann immer Mila in ihrem Leben geliebt hatte, hatte sie es aufrichtig getan, und wann immer sie verloren hatte, so hatte sie mit einen Teil von sich selbst verloren. Was blieb, waren Erinnerungen, ein Haus, in dem sie sich so fremd fühlte wie nie zuvor und Anne und Spar natürlich. Sie verbrachte so viel Zeit bei ihnen, dass sie fast schon als dritte Bewohnerin der kleinen Wohnung gezählt werden konnte.
An ihrem neunzehnten Geburtstag kehrte sie ein letztes Mal zurück zum Haus. An dem Abend, an dem sie schmerzlich merken musste, dass sie selbst Anne nicht für ewig in ihrem Leben halten konnte. In ihrem Herzen ja, aber aus ihrem Leben verschwand sie, wie es schon so viele andere vor ihr verlassen hatten.
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