Jetzt liege ich schon die zehnte Woche hier und ich fühle mich wie ein Atomschutzbunker, in dem alle chemischen Abfälle gelagert werden, die in den letzten Jahren so entstanden sind.“ Dann ist es ruhig. Keiner sagt mehr etwas, weder ich noch er. Was soll ich auch sagen? Dass schon alles gut wird, obwohl ich weiss, dass das nicht stimmt. Gar nicht sein kann, ich
es nur hoffe, so fest wie nichts anderes auf der Welt. Ein Leben ohne ihn – unvorstellbar. Was wir alles zusammen erlebt haben, bevor es immer um Spitäler und Kliniken ging. Die Zeit, die wir zusammen verbracht haben. Die Gespräche, die wir auf dem Schulweg hatten. „Wieso bist du eigentlich noch hier?“ – „Was?“ Ich muss mich wohl in meinen Gedanken
verloren haben. „Du könntest mit jedem Jungen da draussen abhängen, aber stattdessen sitzt du hier neben einer Gestalt, die man nicht mehr als Mensch bezeichnen kann, weil er weder Haare auf dem Kopf hat noch mehr als zwei Stunden am Stück wach sein kann“ Ich muss kurz leer schlucken. Dass er so über sich spricht, habe ich noch nie zuvor gehört.
„Was erzählst du denn da? Nur weil du keine Haare mehr hast, sollst du kein Mensch mehr sein?! Du bestehst doch aus viel mehr als nur aus einer Hülle. Wir sind Freunde und da kommt es doch nicht auf solche Dinge an.“ „Aber es stimmt doch. Wenn du nicht gerade in irgendeinem Klassenzimmer im Neufeld sitzt, bist du hier bei mir. Und das obwohl meine Aussichten nicht gerade glänzen sind.
“ Da hat er zwar recht, aber ich kann doch auch nicht einfach gehen und ihn im Stich lassen, wie es die meisten Mädchen machen, wenn es nicht
ganz so läuft, wie sie es sich erhofft haben. „Sag doch nicht solche Dinge. Es gibt noch immer Hoffnung. Die Ärzte sagen, es haben auch schon Menschen mit deinem Stadium gegeben, die es überlebt haben.“ „Ich habe ein Neuroblastom in Stadium 4b. In meinem Brustkorb und auf meiner Leber hat es ein walnussgrosser Fleischklumpen. Von dem an meinem Hals mal ganz abgesehen.“ Da öffnet sich die Tür und Dr. Dantonello tritt in den
Raum. Er ist der sympathischste Arzt, den man sich vorstellen kann. Hinter dem Oberarzt eine ganze Reihe an Pflegenden und Medizinstudenten. Wie es halt an jedem Freitag ist, die grosse Runde. Der Tumor sei immer noch gleich gross, es brauche einen weiteren Zyklus. Jan sagt, es sei ok, er habe sich langsam mit der Situation abgefunden. Ob das wirklich
stimmt? Er muss doch innerlich immer noch auf eine gute Nachricht gehofft haben. – Aber irgendwie ist heute etwas anders: „Bist du dir immer noch sicher?“ Jan antwortet mit einem knappen „Ja“ und wirft Dantonello einen vorwurfsvollen Blick zusammen mit einem leichten
Kopfnicken gegen mich zu. Was soll das? Wieso sind die beiden jetzt so still?
Der Arzt fragt: „Hast du’s deiner Freundin noch nicht gesagt?“ Dantonello spricht mich immer noch als seine Freundin an, obwohl wir ihm schon etwa tausendmal gesagt haben, dass wir nicht zusammen sind. Aber jetzt beschäftigt mich eine Frage viel mehr. „Was gesagt?!“, unterbreche ich die zwei. Jan schaut mich verlegen und etwas demütig an. „Ich sage es dir
später, oke?“ Was will er mir sagen? Die Chemo funktioniert gar nicht mehr? Er braucht eine neue Lunge? Was auch immer ich würde ihm alles geben, was ich kann. Wieso hat er es mir nicht schon lange gesagt? Ist es so schlimm? „Jan, ich will es jetzt sofort wissen!“, fahre ich ihn etwas vorwurfsvoller als geplant an. Er wirft den ganzen Ärzten und Pflegern einen hilflosen Blick zu. Ich boxe ihn fein in den Oberarm. „Denk an das, was wir besprochen haben. Wir erzählen uns immer alles. Also was ist?“ Er macht den Medizinern mit einer Kopfbewegung zur Tür klar, dass sie später wiederkommen sollen. Also verlassen sie das Zimmer und wir sind allein. „Also was ist los?“ „Sophie ich weiss, es wird dir nicht gefallen,
aber du kennst meine Situation. Ich werde nie mehr so sein wie früher. Ich werde nie mehr mit dir in die Schule gehen können. Ich kann mich irgendwann in sehr naher Zukunft nicht mehr bewegen, weil dieses Ding auf meine Nerven drücken wird und mich lähmt. Ich will nicht mehr. Nicht unter diesen Umständen.“
Was will er damit sagen. Ich will nicht mehr.
Heisst das, dass wir heute aus diesem Spital ausbrechen? Oder dass er doch operieren will, obwohl die Überlebenschancen im negativen Bereich liegen. Wenn er das wirklich machen will, dann müsste ich ihn mit aller Kraft daran hindern. „Ich verstehe gerade nicht ganz was du meinst?!“ „Ich will die Chemo nicht mehr. Und du kannst sagen was du willst, ich habe
mich entschlossen. Ich breche den ganzen Scheiss ab.“ Dieser Satz trifft mich, wie mich irgendeiner dieser Schlägertypen in die Magengrube schlagen würde. Ich weiss ja, dass Jan die Chemotherapie verständlicherweise nicht mag, aber dass er sie abbrechen würde, hätte
ich nie gedacht. „Also du willst sie abbrechen? Und du hast dir das gut überlegt?“ „Ja, ich habe ja genug Zeit hier in der Insel. Du opferst hier die Hälfte deines Lebens, hast noch nie einen anderen Kollegen gehabt als mich. Du lebst in einem riesigen Haus, zumindest im Verhältnis zu unserer kleinen Wohnung. Und trotzdem ist die Uniklinik für dich auch schon
fast ein zweites zu Hause. Ich will das nicht mehr. Wenn der Tumor mich besiegt, dann sei es halt so. Man kann nicht alles auf der Welt beeinflussen.“ „Ich weiss nicht, was ich sagen soll.“ „Sag am besten gar nichts dazu. Ich habe mich entschlossen. Es ändert eh nicht mehr meine Meinung.“ „Aber wie stellst du dir das vor? Willst du einfach sterben, wie die Schildkröten, die ein zu grosses Plastikstück gefressen haben? Buchstäblich verrecken?“
„Ich habe es mit Dr. Dantonello schon besprochen. Wenn ich nicht mehr Atmen kann, wird man mir keinen Schlauch in den Hals stecken, um mich am Leben zu halten. Dieser Kasten hier neben mir wird so ein Krach machen, dass die ganze Station weiss, dass hier etwas
nicht stimmt. Dann wird er kommen, mir ein Medikament spritzen und ich schlafe einfach ein. So einfach ist das.“ Natürlich. So einfach ist das. Ich muss es mir gerade vorstellen. An diesem Tag x werde ich auf diese Abteilung kommen und Jan wird einfach nicht mehr hier sein. Ich werde ihn nie wiedersehen. Ich merke, wie eine Träne meine Backe runterkullert.
„Jan, etwas musst du mir versprechen. Du sagst der nächsten Schwester, die hier hereinkommt, dass wenn du keine Luft mehr bekommst, dass sie mich anruft, egal ob es mitten in der Nacht ist oder ob es in einer Prüfung ist. Ich werde in zwanzig Minuten hier sein.“ „Ich werde es der nächsten sagen, versprochen.“ Da klopft es an der Tür und der Onkologe kommt noch einmal herein. „Na, alles geklärt?“ Plötzlich geht mir ein Gedanken
durch den Kopf und ich frage den Arzt sofort, denn es gibt fast keinen besseren Moment als jetzt; „Könnte man denn nicht durch einen Luftröhrenschnitt oder so, Jan etwas Zeit verschaffen?“ Er geht auf die andere Seite des Krankenbettes und setzt sich auf den Stuhl
vis-à-vis meines Besucherstuhls. „Also es ist so, dass man durch einen Tracheostoma, also einen Luftröhrenschnitt, tatsächlich die Lebensdauer etwas erhöhen könnte. Aber das Resultat wird schlussendlich auf das gleiche herauslaufen. Dadurch, dass er Metastasen im
Thorax, also im Brustkasten, und auf der Leber hat, verschlechtern die ganze Situation. Dazu werden, wenn der Tumor die Luftröhre soweit abdrückt, dass Jan nicht mehr Atmen kann, auch die Nerven in der Wirbelsäule so fest komprimiert, dass er weder Atmen noch
irgendetwas unterhalb des vierten Halswirbels machen kann. Er würde nur noch an diesem Gerät hängen, und das ist kein Leben mehr. Es tut mir leid, dass wir fast nichts mehr für dich machen können, Jan. Aber wir sind trotzdem immer für dich da.“ So hat sich auch der letzte Hoffnungsschimmer in Luft aufgelöst. Plötzlich hört man aus dem Gang lautes gepipse. Der Oberarzt erhebt sich, verabschiedet sich kurz und verschwindet dann auf dem Gang. Da sagt Jan zu mir: „Ich möchte mich jetzt etwas ausruhen. Sehen wir uns morgen wieder?“ Ich antworte mit einem Kopfnicken. Nach einer Umarmung will ich gerade aus der Tür treten, als Jan mich nochmal zurückruft. Er zieht sich eines seiner Patientenbänder, die er vor jedem Spitaleintritt bekommt und danach nicht mehr abnimmt, vom Handgelenk und gibt es mir. Ich stülpe es mir sofort ums Handgelenk und verlasse das Zimmer.
Ich öffne meine Augen und schaue auf das Patientenband. Darauf steht:
Kocher, Jan Geb. 27.03.2004
Ich stehe auf und habe mich entschlossen. Ich gehe aus der Haustür. Laufe die Strasse entlang. Denke über Jan nach. Grüsse völlig abwesend einige Menschen. Da stehe ich vor dem grossen Tor. Ich öffne es und gehe direkt zu einem Stein mit einigen Blumen davor. Davor bleibe ich stehen. Ich schaue mir die Inschrift an:
Jan Kocher
2004-2020