"Wachs in deinen Händen" – eine Geschichte von Emma Zweimüller - Young Circle

«Wachs in deinen Händen» – eine Geschichte von Emma Zweimüller

Member Stories 2023

«Wachs in deinen Händen» – eine Geschichte von Emma Zweimüller

Inmitten einer schier endlosen Dunkelheit und quälendem Schmerz findet die Protagonistin sich selbst in einem schicksalhaften Schwebezustand wieder. Doch plötzlich bricht ein Funke der Erleichterung und ein Hauch von Freiheit durch die Finsternis, als sie die Bedeutung ihrer Trennung zu erkennen beginnt.

Tiefster Schmerz war allgegenwärtig, grub seine Klauen unaufhaltsam in meine Haut. Ich schwebte in schwarzem Nichts. Eine grosse Masse aus Leere und Stille erstreckte sich über Ewigkeiten und verband so verschiedene Gezeiten, die verschwommen um meinen Kopf herumwaberten, sodass sie beinahe greifbar wurden – aber nicht ganz. Nur… Vielleicht war diese schwebende Figur doch nicht ich? Konnte ich mich selbst sehen und doch so weit entfernt von mir stehen, dass ich mich nicht wiedererkannte? Denn vor mir erspähte ich bloss eine fade Gestalt meiner selbst, erhaschte kurze Blicke auf ein blasses Abbild ohne Farben, das langsam mit der Dunkelheit verschmolz. So wie ich. Schmerz um mich, in mir, überall. Unendliche Facetten von grau, so leblos und doch, vielleicht auch genau deshalb, unsterblich.

Wer war ich überhaupt? Konnte Stille einen zerreissen, bis man nur noch aus winzigen Fetzen bestand, verstreut in einem noch grösseren Nichts als diesem hier? Dabei waren doch keine Grenzen zu erkennen, keine Linien. Alles verband sich. Alles verschwamm.

Die Stille nahm zu, dröhnte in meinen Ohren und klang plötzlich nach einem Wortschwall aus Deinem Mund. Worte, die wie Hagel auf mich niederprasselten. Unkontrolliert und trotzdem jede Silbe gestochen scharf, zusammen nur noch ein schrilles Kreischen. Eine Sinfonie der Disharmonie, keine passenden Töne, bloss Missklänge in voller Lautstärke. Ein klagender Laut drückte gegen meine Lippen, brannte auf meiner Zunge, flehte in meinem Kopf. Doch kein Laut durchbrach diese unnatürliche Stummheit. Ich schwebte einfach weiter, als bestünde nicht alles aus flammendem, versengendem Rot. Züngelnde Zweifel und tosende Stürme, die mich nach und nach von innen heraus verbrannten. Ich verschmolz zu einer Graupalette, die traurig ins Nichts tropfte, sich träge auflöste, während Erinnerungen an Dich, an Uns, als Abspann um mich herum flimmerten.

«Erinnere dich», wisperte die Dunkelheit. «Erinnere dich daran, wer du bist.» Es fühlte sich an, als würden alle Aspekte, die mich ausmachten, nein, vielmehr glücklich machten, ineinanderfliessen. Zurück blieb nur dieses jämmerliche Ich in undurchdringlicher Trance. Völlig deformiert, aber nicht weiter verformbar.

«Atme.»
«Atme.»
«Atme.»

Ein einzelnes Wort, das die Stille zum Vibrieren brachte, immer und immer wieder. Die Dunkelheit schien plötzlich so vertraut. Als kannte ich die Stimme der Nacht.
«Atme.»

Und diese leise Bekanntheit erdete mich, sorgte dafür, dass ich langsam mehr fühlte als nur prickelnde Taubheit, und die Augen öffnete.

Ein Atemzug.

Ein Atemzug war alles und noch so viel mehr. Auf einmal spürte ich wieder die Schneeflocken, die leise flehend auf meinen Wangen zerrannen, sich mit meinen Tränen verbanden und salzig auf spröde Lippen trafen, bis sie schliesslich trostlos auf den Boden tropften und in weichen weissen Massen verschwanden. Ein winziges Netz aus Punkten zog sich nun über den schneebedeckten Boden. Eines, das mich nie auffangen würde, weil Du es nicht mehr hältst. Ich würde fallen, fallen, fallen, in eine Dunkelheit ohne Ausgang und Tür, ohne Ausbruch und ohne Eindringen.

Mein tückisches Herz wollte mir weismachen, knirschende Schritte zu hören. Du näherst dich. Doch natürlich war es eine einzige Farce. Frischer Pulverschnee stöhnte ächzend unter Deinem Gang, als Du dich immer weiter entferntest und zu einem winzigen Punkt in der Fremde wurdest. Ich sah Dich, aber eigentlich sah ich doch nichts. Nichts und schwarz und weiss und nichts. Deine mir so bekannte Gestalt irgendwo zwischen meinem erstarrten Herzen und deinen endgültigen Worten. Die Umrisse eines Menschen, der auf einen Schlag zum Unbekannten wurde. Binnen Millisekunden Meilen entfernt. Unerreichbar und trotzdem untrennbar von meinen unzähligen Gedanken, die mit den Schneeflocken um die Wette tanzten. Niemals könnte ich meinem Kopf entkommen, einem Gefängnis voller Erinnerungen. Erinnerungen an Dein tiefstes Ich, Deine Wortliebe und Feuerangst, Deine leise Unbeholfenheit und schmerzhaften letzten Worte. Erinnerungen an uns in schönsten Momenten. Erinnerungen in der vagen Form von Liebe. Fiel es Dir leicht, alles hinter Dir zu lassen? Als schwebten wir nicht gerade in einer Blase aus unausgesprochenen Worten und tief verwurzelten Ängsten. Lag am Ende dieser Wurzeln nur für mich vertraute Verbundenheit? Schrie meine Stummheit denn nicht so offensichtlich nach Klärungsbedarf, dass selbst die vorbeieilenden Passanten es hörten? Doch von Dir war nichts mehr zu erkennen, da pfiffen bloss Schneestürme um mich herum, und ich spürte plötzlich, wie sehr ich zitterte.

Kälte, Trauer, Wut, Enttäuschung. Bitter schmeckten die Gefühle auf meiner Zunge. Doch als hätten mich die Emotionen durchgeschüttelt, aus meiner merkwürdigen Hypnose gerissen, schärfte sich mein Blick. Alles fokussierte sich auf diesen Umriss neben mir, auf die Dunkelheit, die nicht Dunkelheit war, sondern meine einzige Rettung. Die Stimme, die die Dunkelheit durchbrach. Freundschaft, die ein Netz spannte, so fest und gross, dass ich nie auf dem Boden aufschlagen würde. Und damit war ein Damm gebrochen. Urplötzlich wurde jegliche Luft aus meinen Lungen gepresst und ich fiel, fiel

f

i

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l.

Befand mich in einer bodenlosen Schwebe, als würde ich ewig hinabstürzen. Doch das war nur ein Gefühl mit positivem Ende, denn ich hatte aus dieser verwirrenden Schockstarre, einer absoluten Betäubung, in meine Umgebung zurückgefunden. Mein Körper verlor sich in einer Umarmung, ich wollte nie wieder hinausfinden. Zerfloss in den Armen von Zuneigung auf die schönste Art zu einer noch winzigeren Gestalt, krampfte vor stechendem Schmerz, aber es fühlte sich so viel besser an als kraftlose Ohnmacht. Manchmal reichte es, wenn jemand da war. Freundschaft, die mich auffing, als Du es nicht mehr konntest. Nicht mehr wolltest.

Und überraschenderweise entdeckte ich in diesem Moment ein völlig neues Gefühl unter den vielen Schichten von Trauer und Enttäuschung, Zurückweisung und Herzschmerz. Ein winziger Funke Erleichterung glomm zaghaft in mir auf. Eine leise Vorahnung, dass Deine Art, mich zu behandeln, niemals richtig war. Der Ausgang niemals gut hätte sein können, weil Falschheit dominierte. Unruhe in mir tobte, ich mich die ganze Zeit so unausgeglichen fühlte. Weil mein Herz sich schon immer komisch verzog – und das nicht aus Nervosität. Ein weiterer Gedanke keimte in mir auf. Vielleicht bedeutete Deine Trennung mehr. Mehr als Schmerz und Trauer. Vielleicht bedeutete es, endlich anzukommen. Zu fliegen, statt zu fallen. Völlig unbeschwertes Freisein.

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