Ich stehe in der Schleuse, die mich ins Weltall hinauskatapultieren sollte. Es ist bei Weitem nicht mein erster Weltraumspaziergang, aber ich werde jedes Mal nervös, wenn ich daran denke, im endlosen Kosmos, herumzudriften, der einzige Kontakt zur Raumstation zwei Drahtseile. «Stella, bist du bereit?» ertönt Michaels Stimme aus meinen Kopfhörern. «Ja» antworte ich und die Schleuse öffnet sich. Langsam trete ich hinaus in das Universum.
Ich hangle mich vorsichtig an der Aussenseite des Schiffs entlang. Über ein Stahlseil bin ich mit Alec verbunden und wir sind beide mit einem 26 Meter langen Seil an der Raumstation angemacht. Heute muss ich eine Luke an der Vorderseite des Schiffs warten. Ich konzentriere mich vollkommen auf meine Aufgabe, als plötzlich rechts von mir etwas ins Schiff einschlägt. Weltraummüll. Alec flucht. Das Teil steckt im Raumschiff, wir müssen es vorsichtig und möglichst schnell entfernen, damit keine ernsthaften Schäden entstehen. Falls nicht schon welche entstanden sind. Ich stosse mich ab und fliege auf das Teil zu. Ich sauge scharf die Luft ein, als ich sehe, dass das Drahtseil, welches mich mit Alec verbinden sollte, lose im Raum schwebt.
Der Weltraummüll, der von einer alten Sonde stammen muss, hat das Drahtseil durchtrennt. «Kann man mehr Pech haben als wir?» fragt Alec. Es ist wirklich ein Riesenzufall, dass der Müll genau das Stahlseil getroffen hat. «Es hätte auch einen von uns treffen können» antworte ich. Ich frage Michael, ob wir zurück zur Schleuse kommen sollen. «Nein, holt zuerst das Teil aus dem Schiff, aber kommt dann so schnell wie möglich.» «In Ordnung» antworte ich. Jetzt sind wir je nur noch durch ein Seil mit der ISS verbunden. Wir machen uns an die Arbeit.
Das Ding ist quadratisch und hat eine schwarz glänzende Oberfläche. Alec und ich beschliessen, dass ich es aus der Schiffsflanke ziehe und er dann so schnell wie möglich die eventuell zertrennten Kabel wieder miteinander verbindet. Ich stemme meine Füsse gegen das Raumschiff und halte das Quadrat mit beiden Händen fest. «Bereit?» frage ich. Alec reckt den Daumen. Dann stosse ich mich ab.
Ich schwebe durch die Kraft meines Stosses weg vom Schiff, aber es hat funktioniert. Ich halte das schwarze Teil in den Händen und Alec macht sich am entstandenen Loch zu schaffen. Zu spät merke ich, dass auch mein zweites Drahtseil durchtrennt wurde.
Ich weiss, dass es kein Fehler der Crew war.
Ich weiss, dass es Sabotage war.
Ich weiss, wer es war.
Und ich weiss auch, warum.
Um bei der ISS mitzufahren, mussten alle Astronauten mehrere Tests absolvieren. Die Sieben, mit den besten Testergebnissen durften mitfahren. Es gab eine Liste, auf der stand, welchen Rang man hatte. Ich war Vierte geworden, Michael Zweiter und Sophia Erste. Alec war Achter geworden.
Um unseren Erfolg zu feiern, gingen wir in eine Bar. Ein paar, die nicht bestanden hatten, kamen auch mit, um ihre Sorgen im Alkohol zu ertränken oder um sich selbst aufzumuntern. Ich sass also an der Bar, schwenkte mein Glas in Kreisen und beobachtete die anderen. Jamie redete mit Alec. Er war Siebter geworden. Das wunderte mich. Ich hatte Jamie stets als ruhig, schlau und freundlich eingeordnet. Zu freundlich vielleicht. Als Jamie kurz zu mir schaute und mich anlächelte, sah ich, wie Alec ihm etwas in sein Getränk schüttete. Ehe ich reagieren konnte, drehte sich Jamie wieder um und trank aus dem Glas. Ich wollte reagieren und ihm sagen, er solle alles sofort wieder erbrechen, aber Alec kam auf mich zu und setzte sich lächelnd neben mich. «Wenn du jetzt reagierst, das schwöre ich dir, wird keiner von euch sieben je wieder zur Erde zurückkehren» murmelte er, immer noch lächelnd. Also hielt ich den Mund. Am nächsten Tag war Jamie tot.
«Alec, ALEC! Stella fliegt weg, du musst sie sofort einholen und zurückbringen, ihre Sicherheitsleine ist zertrennt!» Das ist Michael. «Ich kann nicht Michael, viele Kabel sind gerissen, das offen zu lassen könnte das Schiff gefährden.» Lüge. Er hatte den perfekten Moment erkannt, um mich auszuschalten, denn ich wusste, wie Jamie gestorben war. «Alec, verdammte Scheisse, du MUSST Stella zurückholen!» «Ich kann nicht.» Ich höre die Tränen in Alecs Stimme, aber ich weiss, dass sie nicht echt sind. Michael flucht noch einmal, dann raschelt es in den Kopfhören. Für einen Moment ist es still. «Hallo?» frage ich. Meine Stimme klingt verängstigt und weinerlich. Ich schwebe schon ungefähr zehn Meter vom Schiff entfernt. Eine Welle der Panik rollt über mich hinweg. Wenn ich nicht zum Schiff zurückkomme, werde ich hier draussen ersticken, sobald mir der Sauerstoff ausgeht. Das Mikrofon knackt. Endlich höre ich Sophias Stimme: « Stella, kannst du mich hören? Hör mir zu. Atme ganz langsam ein…und jetzt wieder aus. Je mehr du dich bewegst, je mehr Panik du kriegst, desto mehr Sauerstoff verbrauchst du. Bleib einfach ganz ruhig. Michael zieht gerade einen Ersatzraumanzug an. Wir lassen Sicherheitskontrollen weg und wir arbeiten so schnell wir können, okay? Wir werden Michael mit grösserer Geschwindigkeit hinter dir her senden, wenn ich sage jetzt, wirst du dein Seil in seine Richtung schwenken, ja? Wir kommen, Stella.» Sophias Stimme ist so ruhig, unter anderen Umständen wäre ich wahrscheinlich eingeschlafen. Sie redet immer weiter mit mir, während ich mich von der ISS entferne. «Okay, Michael kommt jetzt» sagt Sophia schliesslich. Und tatsächlich. Er fliegt schnell auf mich zu, der Abstand zwischen uns verringert sich rasant. «Jetzt!» ruft Sophia. Ich packe das Stahlseil, welches lose im Raum rumdriftet, und schleudere es zu Michael.
Und er fängt es.
Ich lache erleichtert auf. Er zieht mich langsam am Seil zu sich, bis ich direkt vor ihm schwebe. «Alles wird gut.» er sieht mich an und lächelt. Mit einem kurzen Stahlseil sichert er mich an ihm. «Halt dich an mir fest.» erklärt er. Wir umarmen uns, irgendwie, und werden langsam zurück zum Schiff gezogen. Ich wünschte, wir würden schneller fliegen, ich will keine Sekunde länger im Weltall verbringen. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen wir schliesslich die Schleuse. «Jetzt wird alles gut.» sagt Michael nochmal und lächelt mich wieder an. «Du bist in Sicherheit, Stella.» Und diesmal lächle ich zurück.
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