Die Zugtüren schliessen sich. Ich bleibe im Gang stehen, kann es noch nicht richtig fassen, atme einmal bewusst ein und aus, verstaue meinen Koffer und halte nach einem Sitzplatz Ausschau. Mein Blick gleitet durch den Wagen. Ich finde einen letzten freien Doppelsitz. Ich lasse mich in den einen Sessel sinken, setze mir meine Kopfhörer auf und höre »New Home» von Bukahara. Ich lehne den Kopf an die Lehne und schliesse meine Augen. Zum ersten Mal nehme ich bewusst wahr, um was es im Song eigentlich geht: «Leave everything and go away». Irgendwie gerade passend für mein Vorhaben.
Bald kommt mein Zug in Zürich an. Ich merke, wie ich etwas unruhig werde. Die Strecke bis Zürich kenne ich. Nach Wien fahre ich heute zum ersten Mal. Ich freue mich auf die Zeit dort – drei Tage, drei volle Tage! Es ertönt eine Durchsage: «Wir erreichen Zürich mit einer Verspätung von 3 Minuten». Sicherheitshalber checke ich die SBB-App: Abfahrt nach Wien 9.25 Uhr auf Gleis 7, Reservation in Wagen 5, Sitz 13. Der Zug beginnt zu bremsen, die Leute stehen auf. Es bildet sich eine Schlange. Ein paar Gleise weiter entdecke ich einen Zug der ÖBB auf Gleis 7. Das muss meiner sein! Ich steige aus, bewege mich zielstrebig zum entsprechenden Gleis. Ich gehe dem Perron entlang – Wagen 1 – eine Durchsage ertönt, ich horche, nicht für mich – Wagen 2 – ich beobachte die Leute um mich herum, gewisse in Eile, andere wartend – Wagen 3 – vor mir schüttet sich jemand Kaffee übers Hemd und flucht lautstark – Wagen 4 – meine Aufregung steigt, meine erste Auslandreise alleine – Wagen 5, Sitz 13, Fensterplatz in Fahrtrichtung in einem Viererabteil. Ich bitte die ältere Dame auf dem Sitz nebenan, mich kurz vorbeizulassen. Kaum sitze ich, beginnt sie ein Gespräch. Wo ich hinreise, ob ich allein reise, ob ich Wien schon kenne, ob …. Ein wenig überrumpelt von ihren vielen Fragen, aber doch erfreut über ihr Interesse, gebe ich Antwort. »Wien», »ja allein» und »nein, dort war ich noch nie». Das sei mutig, erwidert die Frau. Ich schaue sie etwas erstaunt an. Mutig? So hätte ich mich nicht bezeichnet. Die Frau bemerkt meinen Gesichtsausdruck und fügt hinzu: »Ja, ich finde es mutig, mit 18 alleine und für längere Zeit zu verreisen». »Ja », murmle ich, «vielleicht». Nicht wirklich überzeugt. Ich nehme mein Buch nach vorne, »Der Sprung» von Simone Lappert. Eigentlich habe ich keine Lust zu lesen, weiss aber nicht, wie ich sonst der Unterhaltung entkommen kann.
Die Zeit in Wien vergeht schnell. Meine Tage sind von Morgen bis Abend durchgetaktet. Die Aktivitäten entsprechen mir. Doch etwas stört mich. Es fühlt sich an, als würde ich To-do’s von einer Liste abhaken. Es erinnert mich an meine Schulzeit. Ich hoffe, dieses Gefühl im Laufe meiner Reise ablegen zu können.
Ein paar Tage später in Budapest
«Könntest du mich fotografieren?», fragt mich ein Mädchen in meinem Alter auf Deutsch. Ich mache das Foto und frage dann, woher sie wusste, dass ich deutsch spreche. «Du trägst Birkenstocks», antwortet sie mir, als wäre somit der Fall klar. Sie erkundigt sich, wohin ich gehe. Ich schildere ihr mein Programm. Sie nickt anerkennend: «Ich habe noch nichts geplant und lebe einfach so in den Tag hinein. Darf ich dich auf die Margareteninsel begleiten?». «Ja klar», sage ich überrascht und schiebe ein «gerne» hinterher.
Eigentlich habe ich nur zwei Stunden auf der Insel eingeplant, doch wir sind so vertieft in unser Gespräch, dass ich die Zeit vergesse. Als ich das bemerke, will ich mich schnell verabschieden, doch Leni, so heisst meine neue Bekanntschaft, hält mich zurück. «Willst du wirklich gehen? Ich wollte dich doch gerade auf ein Eis einladen», behauptet sie mit einem Grinsen im Gesicht. Nach einigem Hin und Her gebe ich nach. Ehrlich gesagt habe ich sowieso keine Lust auf die geplante Stadtführung. Wir verbringen den restlichen Tag zusammen, tauschen Nummern aus. Zum ersten Mal seit Langem folgte ich heute nicht meinen Plänen, sondern tat, worauf ich gerade Lust hatte.
3 Wochen später
Ich sitze im Wartesaal am Bahnhof in Bukarest, telefoniere mit Leni und erzähle ihr von meiner Weiterreise. «Danke für den Tipp. Du hast mir ja die App Hostelworld gezeigt, um andere Reisende kennenzulernen», sage ich und erzähle ihr von meiner Begegnung mit vier Gleichaltrigen: «Ich traf mich mit drei Jungs und einem Mädchen in einem Café, danach erkundeten wir gemeinsam die Altstadt von Prag. Wir…».
«Could you help me to buy a ticket?”, lenkt ein Mann, etwa im Alter meines Vaters, meine Aufmerksamkeit auf sich. Er spricht mit einem starken französischen Akzent. Ich gebe Leni kurz Bescheid, dass ich gleich wieder bei ihr sei, und gebe dem Herrn dann auf Französisch Antwort. Sichtlich erleichtert schildert er mir sein Problem in seiner Muttersprache. Ich erkläre ihm, dass mein Französisch nicht ganz so gut sei und bitte ihn, etwas langsamer zu sprechen. Beim zweiten Versuch verstehe ich sein Anliegen und helfe ihm, die Sprache auf dem Ticket-Automaten anzupassen. Er bedankt sich überschwänglich.
Leni möchte mehr wissen und ich erzähle: «Sie hatten ein Auto, noch keine klare Route, aber ein Ziel – Istanbul. Der Gedanke einfach loszufahren, ohne Plan, gefiel mir und sie boten mir an mitzukommen. Wir reisten nach Budapest, durch die ländlichen Gebiete von Ungarn und Kroatien. Wir erkundeten den Norden Serbiens, fuhren weiter nach Bulgarien und erreichten dann vor knapp einer Woche Istanbul. Dort verabschiedete ich mich von den Vieren und wechselte zurück auf den Zug. Nun reise ich nach Budapest und von dort zurück in die Schweiz». Leni ist begeistert: «Das klingt toll! Ich bewundere deinen Mut, ich hätte mir das nie zugetraut!». Ein Gefühl von Stolz durchströmt mich. Noch vor wenigen Wochen hätte ich ihr niemals zugestimmt. Das scheint nun weit weg. Ich habe mich herausgefordert. Ich habe viel gelernt. Und ich wurde mit tollen Erfahrungen belohnt. Wie hatte die ältere Dame gesagt? Ich sei mutig. Und vielleicht hatte sie damit recht. Ich bin stolz auf mich.
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