"Unbemerkter Wandel" - Eine Geschichte von Amira Chergui - Young Circle

«Unbemerkter Wandel» – Eine Geschichte von Amira Chergui

Member Stories 2023

«Unbemerkter Wandel» – Eine Geschichte von Amira Chergui

In der Stadt Bleistiftien tragen alle Bewohner Schirme auf ihren Köpfen, um sich vor einem dauerhaften Regen zu schützen. Elvira d’Ache, ohne Schirm, stößt auf Unverständnis, bis ein Sturm die Schirme wegreißt. Dies führt dazu, dass die Bleistifte Regenbogen zeichnen und die Regenwolke verschwindet, während die Schirme zurückkehren und die Sonne scheint. Die Bewohner plaudern und zeichnen weiterhin.

Es war einmal vor nicht allzu geraumer Zeit in der Stadt Bleistiftien. Die Bewohnerinnen dieser Stadt waren ausschliesslich Bleistifte. Häuser hatten sie keine – wozu auch? Um sich fortzubewegen schrieben oder zeichneten sie auf den Boden, der aus weissem Papier bestand. Wenn man Bleistiftien von weit oben betrachtete, sah man tausende farbige Schirmchen mit den verrücktesten Mustern. Über der Stadt war seit eh und je dieselbe Wolke, die immerzu regnete. Daher hatten die Bewohnerinnen einen Schirm, den sie sozusagen als Hut auf ihrem Kopf montiert hatten, um sich vor dem Regen zu schützen. Bleistifte werden nicht von einer Mutter geboren, sondern inklusive Schirm auf dem Kopf auf die Erde gesandt. Es gibt aber Ausnahmen, die ohne Schirm zur Welt kommen.                                                                  

Eine dieser Ausnahmen heisst Elvira d’Ache. Elvira wurde wie alle ihresgleichen in ihrer vollen Grösse noch völlig ungespitzt heruntergeschickt. Auf dem Weg zur Spitzmaschine lief sie ganz nahe bei den anderen, um ja nicht nass zu werden. Zur Spitzmaschine gehen die Bleistifte mindestens allwöchentlich. Je kleiner ein Bleistift, desto älter und verbrauchter ist sie. Das Spitzen ist für sie völlig schmerzfrei, ja, sie geniessen es sogar. Nach dem die Neulinge gespitzt wurden ging es auch schon los: Wild drauflos zeichneten und schrieben sie in alle Richtungen und verteilten sich in der Stadt.  

Schreiben können die Bewohnerinnen in allen Sprachen, doch mit dem Alter kommt das Unwissen, die Vergesslichkeit und die Beschränktheit. Die Alten verstehen nicht viel und schreiben teilweise nur gerade Linien anstatt Buchstaben. Auch das Zeichnen – vor allem das Zeichnen! – verlernen sie. Wenn sie dann ganz klein und dumm sind, lösen sie sich in Luft auf und sind einfach nicht mehr da.

Die Ankömmlinge sind nun weit weg von der Spitzmaschine und probieren sich aus. Elvira d’Ache war nun völlig allein und nicht mehr im Schutz der anderen. Sie spürte wie der Regen auf sie niederprasselte und fing an zu weinen. Ihr Weinen und Schluchzen wurde immer heftiger; sie schrieb sich in Richtung eines anderen Bleistifts.

 „Es ist grauenhaft hier! Es tut so weh!“

„Was tut so weh?“, entgegnete der andere verdutzt.

„Na der Regen!“ 

„Welcher Regen?!“ 

„Der Regen! Er frisst mich von innen auf. Spürst du denn nichts?“ 

„Ne, ich spüre nichts und wenn schon, hör auf das so zu dramatisieren, so schlimm wird dieser Regen schon nicht sein!“, sagte sie zu ihr und zeichnete sich davon. Elvira war noch trauriger und fühlte sich unverstanden. Sie behielt ihren Ärger jedoch für sich und schrieb sich betrübt in die entgegengesetzte Richtung. Von da an schwieg sie und erzählte den anderen Bewohnerinnen nichts vom Regen, der so schmerzhaft auf sie niederprasselte, weil sie ja doch nicht wüssten, wovon sie spricht. Tage, Wochen, Monate des Schweigens vergingen bis eines Tages ein ungeheurer Sturm aufzog. Die Wolke über Bleistiftien verdunkelte sich und es begann zu blitzen und zu donnern. Da geschah es: Der Wind riss allen Bleistiften den Schirm vom Kopf. Jetzt hatte keine von ihnen einen schützenden Schirm auf ihrem Kopf. Alle spürten von diesem Moment an den Regen und gerieten in Panik. Der eine Bleistift, der vor längerer Zeit mit Elvira gesprochen hatte, zeichnete sich so schnell wie möglich zu ihr hin.  

„Der Regen! Ich spüre ihn! Es ist grauenhaft!“ 

Elvira sah sie mit grossen, etwas traurigen Augen an: „ Ja, das ist es, doch mit der Zeit gewöhnt man sich an den Schmerz.“

„Daran gewöhnen? Aber das macht es doch nicht besser!“

„Ich weiss nicht. Lass uns etwas Zeichnen! Etwas Schönes! Einen Regenbogen zum Beispiel.“ 

„Wir haben keine Farben.“ 

„Egal, wir können ihn grau zeichnen und uns die Farben einfach vorstellen.“

„Meinetwegen.“

Auch wenn Elvira d’Ache bis anhin nichts davon wusste, gab es viele ihrer Art; Bleistifte, die ohne Schirm zur Welt kamen und damit leben mussten. Diese besonderen Bleistifte zeichneten nun zusammen mit ihren gerade erst schirmlos gewordenen Freundinnen graue Regenbogen. Die Alten nicht ausgeschlossen! Sie schienen plötzlich das Zeichnen wieder erlernt zu haben. So wurde also ganz Bleistiftien voll mit hunderten grauen Regenbogen. Ohne, dass sie es bemerkten, regnete es immer weniger. Die Wolke über der Stadt verschwand und die Sonne schien zum ersten Mal. Die Regenbogen waren nicht mehr grau, sondern schimmerten in prächtigen Farben. Die verlorenen Schirme der Bleistifte flogen vom Himmel hinab und schwebten einige Meter über dem Boden.                                                

Doch von alledem bekamen die Bewohnerinnen Bleistiftiens nichts mit, weil sie so ins Zeichnen und miteinander Plaudern vertieft waren. – Und wenn sie nicht gestorben sind, dann zeichnen und plaudern sie noch heute.

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