"Träume" – Eine Geschichte von Seraina Braun - Young Circle

«Träume» – Eine Geschichte von Seraina Braun

Member Stories 2024

«Träume» – Eine Geschichte von Seraina Braun

Inmitten der Zerstörung des Krieges findet ein Mädchen Trost in einem Traum von Paris, wo sie einen Jungen mit helltürkisen Augen küsst. Während sie in einem feuchten Keller mit ihrer Familie lebt und die Sorge um ihren vermissten Vater trägt, hält sie an ihren Träumen fest, die ihr Hoffnung und Wärme schenken.

Gerade ging die Sonne unter und färbte das Wasser der Seine golden. Ein letzter Sonnenstrahl wärmte mein Gesicht und ich nahm die Wärme gerne entgegen, ich hatte in letzter Zeit einfach zu oft zu kalt gehabt. Apropos Wärme, meine Hand lag warm und geborgen in der Hand eines etwa gleichaltrigen Jungen, der neben mir herging. Das Eisen des Eiffelturms sah in der Sonne aus wie in Gold getunkt. Ein Heissluftballon fuhr durch die, von der Sonne rosagefärbten, Wolken am Turm vorbei. Ich betrachtete den Jungen neben mir genauer. Er trug eine kurze Leinenhose und ein weisses Hemd. Hosenträger hielten seine Hose an Ort und Stelle und er hatte eine cremefarbene Schirmmütze aufgesetzt. Er hatte leichtgekraustes dunkelbraunes Haar und gab so den perfekten Franzosen ab, wenn da nicht diese irritierend helltürkisen Augen gewesen wären, die so gar nicht zu seinen dunklen Haaren passen wollten. Das gekrauste Haar fiel ihm in die Stirn, glich so sein etwas kantiges Gesicht aus und machte seine Züge weich. Obwohl die Farbe seiner Augen eher kühl war, war der Blick, mit dem er mich gerade anschaute, voller Wärme und Liebe. Ich merkte, wie mein Herz schneller schlug, als er meine Hand losliess und stattdessen beide Hände um meine Taille legte. Ohne mein Zutun hatte ich meine Arme um seinen Hals gelegt. Er lächelte mich warm an, bevor er mich sanft küsste. Ich schloss die Augen.

Ein Junge küsste mich. In Paris. In der Stadt der Liebe. Wie kitschig war das denn. Und was für ein Blödsinn. Ich riss die Augen auf. Nein wirklich, was für ein Blödsinn. Ich versuchte mich in der Dunkelheit zu orientieren und wusste, dass ich ganz bestimmt nicht in Paris und schon gar nicht mit einem französischen Jungen war. Ich fror und zog die kratzige Decke enger um mich, die aus alten Kartoffelsäcken genäht worden war. Ich hörte meinen kleinen Bruder schreien, meine Mutter die ihn zu beruhigen versuchte. Dann wurde es wieder still. Nach wenigen Minuten, in denen ich meinen Gedanken nachhing, hörte ich ein Weinen, nur ein ganz leises, zurückgehaltenes. Ich kniff nochmal kurz die Augen zusammen, quälte mich aus meinen Decken und tastete mich durchs Dunkel. Vom Weinen geleitet, gelangte ich schliesslich zu meiner Mutter und fand sie auf ihrer Decke sitzend, meinen kleinen Bruder im Arm, der inzwischen wieder eingeschlafen war. Ich setzte mich neben sie auf die Decke und legte einen Arm um sie. Ein fast lautloses Schluchzen entfuhr ihr und sie klammerte sich an mich. Ich hingegen klammerte mich an das Bild vom Eiffelturm bei Sonnenuntergang, von der Seine mit ihrem goldenen Wasser und dem Franzosen mit seinen türkisen Augen und dem warmen Blick. Wie ich von so etwas kitschigem träumen konnte, war mir ein Rätsel. Vor ein paar Tagen war unser Haus von den Nazis zerbombt worden und wir hatten seit Monaten nichts mehr von meinem Vater gehört. Er war vor einem Jahr in den Krieg gezogen und wir hatten anfangs alle zwei Wochen einen Brief von ihm erhalten, in dem gestanden hatte, dass alles in bester Ordnung sei und er bald wieder nach Hause kommen würde. Dann kamen plötzlich keine Briefe mehr und wir begannen uns Sorgen zu machen. Ich redete mir ein, er hätte einfach keine Zeit oder war an einem Ort, wo er keine Briefe verschicken konnte. Tief in meinem Innern wusste ich aber, dass es durchaus anders sein konnte. Meine grosse Schwester und ich kümmerten uns grösstenteils um unsere jüngeren Geschwister, während Mutter oft krank war. Als schliesslich unser Zuhause zerstört wurde, mussten wir zu einer befreundeten Familie in den Keller ziehen, was die ganze Sache nicht viel besser machte. Trotzdem konnten wir dankbar sein, dass wir noch am Leben waren, im Gegensatz zu tausenden von anderen Menschen. Mutter atmete tief durch und straffte sich. «Alles wird wieder gut», sagte sie tapfer und ich musste unwillkürlich lächeln. Auch wenn sie oft krank war und es ihr sehr schlecht ging, war sie dennoch immer mein Fels in der Brandung und ich liebte sie dafür. Ich dachte wieder an meinen Traum von Paris und fragte mich, wie es dazu kommen konnte, dass ich noch so träumen konnte. Vater war höchstwahrscheinlich tot, unser Zuhause war zerstört und das Leben in einem engen, feuchten, schimmeligen Keller mit so vielen Menschen trug auch nicht gerade zu unser aller Gesundheit bei.

Die Nazis hatten mir mein früheres Leben gestohlen, aber eines konnten sie mir nicht nehmen: Meine Träume.

Denn Träumen ist immer erlaubt.

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