"Tote Mädchen telefonieren nicht" – Eine Geschichte von Lena Wepf - Young Circle

«Tote Mädchen telefonieren nicht» – Eine Geschichte von Lena Wepf

Member Stories 2024

«Tote Mädchen telefonieren nicht» – Eine Geschichte von Lena Wepf

Während eines Klassenlagers im Wald werden die Schüler von einer mysteriösen Stimme auf einem Handy gewarnt, dass sie rennen müssen, um nicht wie drei zuvor verstorbene Jugendliche zu enden. Die Gruppe versucht panisch, dem Warnruf zu folgen, doch als die Stimme am Ende des Gesprächs aufhört, ist der Protagonist allein und sieht sich selbst regungslos am Boden liegend, während eine unheimliche Gestalt mit Hirschgeweih erscheint.

Ich lege meine Karte ab, eine gelbe Sechs. Noemie zögert kurz, bevor sie eine rote Sechs darauflegt. Als Leo mich angrinst, weiß ich, was kommt. Ich schüttle den Kopf, nicht wegen mir, sondern weil Noemie so abergläubisch ist. Leo grinst breiter und legt eine dritte Sechs. Drei Sechsen. Sechs, sechs, sechs – die Zahl des Teufels. Noemies Augen weiten sich, sie schnappt nach Luft, und ich werfe Leo einen finsteren Blick zu. Musste das sein? Niemand sagt etwas. Es ist mein Zug, aber meine Hand zögert, die nächste Uno-Karte auf den Stapel zu legen. Die Luft scheint schwerer, die Stille plötzlich unheimlich. Selbst die Blätter in den Bäumen über uns haben aufgehört zu rascheln.

In mir breitet sich ein unerklärliches Unbehagen aus. Noemie ist blass wie die Wand und selbst Leo scheint sich nun nicht mehr so sicher zu fühlen. Woher das beklemmende Gefühl kommt, kann ich nicht sagen. Vielleicht liegt es daran, dass wir nachts allein im Wald sind, oder an der Tatsache, dass genau hier vor zwei Jahren die Leichen dreier Jugendlicher gefunden wurden – Jugendliche, die uns gar nicht so unähnlich waren.

Mein Handy klingelt und ich zucke zusammen. Noemie lässt einen kurzen Schrei hören. „Unbekannt“ steht auf dem Display. Mein Herz rast, aber ich gehe ran und schalte auf Lautsprecher.

„Hallo?“, frage ich mit unsicherer Stimme.

„Rennt!“, zischt die Stimme aus dem Lautsprecher.

„Wer ist da?“, frage ich, meine Stimme nun lauter, drängender.

„Ihr müsst rennen.“ Ich blicke Leo verwirrt an.

„Ich bin Elena Dubois.“ Leo lacht nervös.

„Ja, na klar. Hat dir niemand gesagt, tote Mädchen telefonieren nicht?“

Elena Dubois war einer der Jugendlichen, die hier gestorben sind.

„Kannst du das irgendwie beweisen?“ frage ich, obwohl ich die Absurdität der Frage spüre.

„Wie soll man bitte seine Identität per Telefon beweisen?“ murmelt Leo, jetzt merklich nervöser.

„Meine Leiche wurde am 15. Mai 2022 gefunden, zusammen mit denen meiner zwei besten Freunde. Todesursache unbekannt. Es schien, als wären wir einfach umgekippt. Aber das ist nicht wahr, und euch wird das Gleiche passieren, wenn ihr nicht rennt!“ Ihre Stimme klingt verzweifelt, flehend. Es muss ein Streich sein, oder?

„Ihr müsst so schnell wie möglich aus dem Wald heraus. Nehmt nichts mit. Er wird versuchen, euch anzurufen – geht nicht ran! Wenn jemand eure Namen ruft, reagiert nicht – rennt weiter. Kommt erst zurück, wenn es hell ist. Fasst die Uno-Karten nicht an.“ Die Verbindung bricht abrupt ab.

Der letzte Satz lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich sehe Leo an und erkenne in seinem Gesicht, dass er jetzt auch beunruhigt ist. Noemie muss ich gar nicht erst ansehen – ihre Fingernägel bohren sich bereits schmerzhaft in meine Hand.

„Wir gehen“, entscheide ich für uns alle. Wir stehen auf, die Anspannung in der Luft ist fast greifbar. Keine fünf Schritte haben wir gemacht, als Leos Handy klingelt. Er zieht es hervor und will rangehen.

„Spinnst du?“, schreit Noemie ihn an. „Hast du nicht zugehört?“ Leo drückt den Anruf weg, seine Hände zittern leicht, und wir gehen weiter, schneller jetzt. Zwei Minuten später hören wir eine Stimme. Sie klingt wie die von Noemies verstorbener Mutter, die nach ihr ruft. Noemie bleibt wie erstarrt stehen, doch ich drücke ihre Hand fester, ziehe sie weiter.

Wir gehen schneller, fast rennend, doch mit jedem Handyklingeln und jedem Ruf wächst der Drang, zu antworten. Meine Beine fühlen sich schwer an, mein Kopf ist wie in Watte gehüllt. Ich weiß nicht mehr, ob Noemie und Leo noch bei mir sind. Die Dunkelheit scheint sich um uns zu schließen, jede Bewegung wird zur Qual. Dass ich gestürzt bin, merke ich erst, als meine Knie hart auf den Waldboden aufschlagen. Die Stimme, die meinen Namen ruft, wird lauter, das Klingeln meines Handys schriller, unerträglicher.

Nicht reagieren.

Nicht reagieren.

Nicht reagieren.

Wiederhole ich in meinem Kopf, verzweifelt versuchend, bei Sinnen zu bleiben.

Nicht reagieren.

Nicht reagieren.

Doch es wird zu viel. Ich halte es nicht mehr aus.

Nicht reagieren.

Nicht reagieren.

Nicht…

Ein verrücktes Lachen entfährt mir. Wovor habe ich eigentlich Angst? Tote Mädchen telefonieren nicht, oder? Mein Daumen schwebt über dem grünen Knopf, dann drücke ich ihn und hebe das Handy an mein Ohr.

„Hallo?“

Und plötzlich… fühlt sich alles wieder normal an. Es ist immer noch dunkel, ich kann mich nicht bewegen, aber das seltsame Gefühl der Normalität kehrt zurück.

„Steh auf!“, befiehlt eine Stimme, die ich nicht kenne.

„Ich kann nicht.“

„Steh auf!“

Ich versuche, meine Beine zu bewegen, aber sie rühren sich nicht.

„Du musst deinen Körper zurücklassen.“

Und plötzlich kann ich aufstehen. Ich blicke mich um, einige Meter entfernt steht eine Gestalt – groß, mit leuchtend weißen Augen. Der Körper ist menschlich, aber am Kopf trägt es ein Hirschgeweih. Ein kalter Schauer überläuft mich.

„Wo sind meine Freunde?“, frage ich, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Die Gestalt blickt hinter mich und ich drehe mich um. Zwei Schritte entfernt liegen sie am Boden, regungslos. Ich will zu ihnen laufen, doch als ich hinabsehe, schreie ich auf – da liege ich selbst.

„Was ist passiert?“, meine Stimme zittert.

„Du hast den Anruf angenommen.“

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