Hailey starrte nach oben. «The Hall of Mirrors» war in altmodischen, blauroten Buchstaben auf einem der vielen Zelte zu lesen, die überall standen. Sie alle hatten zu einem Zirkus gehört, der nicht nur atemberaubende Shows, sondern auch diverse andere Aktivitäten zu bieten gehabt hatte, wie zum Beispiel dieses Spiegellabyrinth. Wohin er auch kam, der Zirkus war das Highlight des Jahres und zog Menschen von nah und fern an.
Doch das lag in der Vergangenheit.
Die Farbe des Schildes blätterte ab, was kein Wunder war. Immerhin war der Zirkus seit nun fast drei Jahren verlassen. Nach einer Tragödie, die sich hier ereignete, wurde er ausser Betrieb gesetzt und verfiel mehr und mehr. An jenem schrecklichen Abend wurden sechs Besucher brutal im «The Hall of Mirrors» ermordet. Ihre Leichen wurden erst Stunden nach dem Ereignis gefunden, der Täter wurde bis heute nicht gefasst. Man begann über einen «Maskenmann» zu sprechen, der eine karierte Maske getragen haben soll und für die grausame Tat verantwortlich war. Doch das waren reine Vermutungen. Die Einzigen, die hätten Auskunft geben können, lebten nicht mehr.
Und nun war Hailey hier.
Sie war 17 Jahre alt und wollte mehr über den Zirkus und sein Schicksal herausfinden. Das Ereignis liess sie nicht los, seit sie einen Artikel darüber in der Zeitung gelesen hatte.
Ohne weiter zu zögern, betrat Hailey «The Hall of Mirrors».
Als sie eintrat, war alles dunkel, doch in weiser Voraussicht, hatte sie eine Taschenlampe mitgebracht, die sie nun einschaltete.
Sie staunte. Das Labyrinth schien riesig, von aussen hatte es viel kleiner gewirkt. Die Spiegel waren sehr hoch und liefen oben oval zusammen. An den Rändern entdeckte Hailey kleine Lämpchen, die jedoch schon lange nicht mehr leuchteten. Eine Staubschicht verdeckte den Grossteil der Spiegel, sodass Hailey ihr Spiegelbild nicht gut erkennen konnte. Mit dem Finger fuhr sie über einen der Spiegel, wobei eine Staubwolke aufwirbelte.
Mit der einen Hand die Taschenlampe haltend und mit der anderen sich vorantastend, suchte sie sich langsam einen Weg durch die verspiegelten Gänge. Ihr fiel auf, dass auf den Spiegeln immer weniger Staub lag und sie ihr Spiegelbild immer klarer erkennen konnte, je weiter sie in das Labyrinth eindrang.
Nach einer Weile vernahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung in einem der Spiegel. Sie fuhr herum. Als Hailey um sich blickte, konnte sie nichts erkennen, vermutlich war es reine Einbildung gewesen. Beunruhigt ging Hailey weiter, wobei sie sich nun ständig in alle Richtungen umsah.
Ein paar Meter weiter stolperte sie plötzlich über etwas am Boden. Fluchend sah sie sich um. Da entdeckte sie es. Hailey ging in die Hocke und nahm es in die Hand. Sie erschauderte. Es war eine Maske, weiss-schwarz kariert.
Die Geschichten waren wahr.
Die Mundwinkel der Maske waren grotesk nach oben gezogen und mit roter Farbe umrandet, sodass ein rotlächelnder Mund entstand. Erstaunlicherweise war die Maske noch in einem sehr guten Zustand. Wie hatte die Polizei sie nicht bei der Durchsuchung gefunden? Lag sie vielleicht gar noch nicht so lange hier? Bevor sie mehr darüber nachdenken konnte, erklang plötzlich ein unangenehm schabendes Geräusch. Hailey dachte erst, sie hätte es sich eingebildet, doch da erklang es wieder. Ein Kratzen, als ob jemand mit den Fingernägeln an einem der Spiegel entlangfahren würde. Es wurde lauter. Gänsehaut machte sich auf ihren Armen breit, sie begann zu zittern. Langsam erhob sie sich mit der Maske in der Hand und sah sich um. Sie konnte niemanden entdecken. Da hörte das Geräusch auf. Ein Angstschauer lief ihr den Rücken hinunter und ein mulmiges Gefühl beschlich sie. Etwas ging hier ganz und gar nicht mit rechten Dingen zu.
Langsam lief sie weiter. Dann erstarrte sie erneut. Sie meinte, ein leises Lachen zu hören, welches kaum wahrnehmbar zwischen den Spiegeln hallte. Sie lauschte. Da war es wieder. Diesmal lauter, schrill und hoch. Dann kamen die Schreie hinzu. Es waren qualvolle Schreie, voller Schmerz und Leiden. Die Schreie der Ermordeten, ging es ihr durch den Kopf. Hailey hielt sich instinktiv die Ohren zu. Als sie ihre Hände wieder sinken liess, war alles still. Hatte sie sich das etwa ebenfalls nur eingebildet?
Sie schrie auf. Da, in einem der Spiegel. Eine dunkle Gestalt. Sie trug eine weiss-schwarz karierte Maske. Die Maske von vorhin. Ungenau erkannte Hailey eine rot-schwarz karierte Hose und ein weisses Hemd, über dem der Schemen eine schwarze Weste trug. Doch all dies bemerkte sie nur am Rande, denn in einer Hand hielt die Gestalt eine Axt, auf der dunkelrote Flecken zu sehen waren. Hailey konnte plötzlich nicht mehr atmen, sie stand stocksteif da. Da neigte die Figur ihren Kopf leicht nach rechts und hob die andere Hand, wie zum Gruss.
Einbildung, alles Einbildung. Ich träume, sagte sich Hailey. Langsam wich sie zurück. Das konnte nicht wahr sein. Da begann sich die Gestalt auf sie zu zubewegen. Und Hailey rannte, ohne sich noch einmal umzudrehen, so schnell, wie es in einem Spiegellabyrinth möglich war.
Bald sah sie das Ende des Labyrinthes. Erleichterung durchströmte Hailey. Sie raste hinaus, blieb nach ein paar weiteren Schritten stehen und sah sich um. Ein paar Herzschläge lang suchte sie das Gelände mit ihren Augen ab. Konnte es wirklich sein, dass der Irre hier irgendwo umhergeisterte? Beobachtete er sie womöglich gerade? Sie musterte die Maske, die sie noch immer in der Hand hielt. Es war alles nur Einbildung,redete sie sich ein. Doch da war wieder das Lachen, welches sie vorhin zu hören gemeint hatte. Diesmal war es lauter und schien von überall gleichzeitig zu kommen.
Das war zu viel.
Hailey stürmte los, durch das verlassene Gelände, vorbei an Zirkuswagen, Zelte und kleinen Fahrgeschäften. Auch nachdem sie das Eingangstor passiert hatte, verlangsamten sich ihre Schritte nicht. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass jemand sie verfolgte.
Schliesslich blieb sie schwer atmend stehen. Da überkam sie ein weiteres Gefühl, dass sie sich nicht erklären konnte. Faszination. Es war merkwürdig. Denn obwohl sie am liebsten weit, weit weggerannt und nie wieder zurückgekehrt wäre, zog der Zirkus sie noch immer magisch an. Oder derjenige, der sich noch immer dort befand.
Der Maskenmann
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