Riri war bereits von klein auf eine Expertin, was Brockenstuben angeht.
Das hatte sie von ihrem Vater Viktor geerbt, der seit Jahren jeden Samstag seine Tour durch die Hallen voller Kleider, Klaviere, Kassetten und sonstigem komischen Krimskrams drehte. Jeden Samstag! Das mag einem Laien übertrieben erscheinen, hat aber System: Nur bei so häufigen Besuchen entdeckt man die wirklich guten Dinge frühzeitig, bevor sie ein anderer Brocki-Experte wegschnappt.
Riri war oft genug auf diesen Touren dabei gewesen, so dass sie einen Laden innert Sekunden auf neue Gegenstände hin röntgen konnte. Die Dinge, die sich seit Ewigkeiten nicht verkaufen liessen, kannte sie auswendig. Riri war ein wandelndes Brockenstuben-Lexikon. Sie kannte den mittelgrossen Esstisch mit zerschundenem Linoleumbelag ebenso wie das darauf stehende Regal aus dunklem Holz mit sieben Tablaren, die fast überquollen. Da lag eine Schachtel voller Miniatur-Keramikhündchen, die sie alle beim Namen kannte. Die lustigen Tierchen sassen, standen und sprangen darin herum, liessen die Zunge heraushängen, schauten drollig oder, wo die Bemalung verblasst war, einäugig aus der Kiste hinaus auf den Stapel alter Landkarten, auf denen Länder eingezeichnet waren, die es schon lange nicht mehr gab. Riri kannte sie alle. Auf dem Regal darüber stand ein ausgestopftes Rotkehlchen neben einer Käpslipistole und drei uralten Puppen in hübschen Sonntagskleidern. „Hallo, Margareth, Jasmin, Paul“, sagte Riri leise und mehr zu sich selbst, wenn sie an ihnen vorbeiging. Paul sah zwar aus wie die beiden anderen Puppen, aber Riri hatte irgendwie das Gefühl, dass Paul eigentlich ein Junge war.
Riri kannte nicht nur jedes verstaubte Ecklokal der Stadt samt Inhalt. Sie kannte auch deren Besitzerinnen und Besitzer. Und sie alle lassen sich – laut Expertin Riri – in zwei Gruppen unterteilen:
Die einen würden bei der Bezeichnung „Brockenstubenbesitzer“ sofort reklamieren, da sie ihre Läden ambitioniert „Antiquitätengeschäfte“ nennen. Sie haben sich darauf spezialisiert, den Leuten jeglichen Ramsch anzudrehen. Die Preise dürfen dabei auf keinen Fall zu tief sein. Je teurer der Gegenstand, desto wertvoller erscheint den Leuten das Angebotene. Die laufen dann mit einer Armbanduhr aus dem Laden, auch wenn sie eigentlich eine Schreibtischlampe gesucht haben. Aber die passende Lampe war halt nicht da, oder das Gewinde war so alt, dass es gar keine Glühbirnen mehr dafür gab, und ausserdem war die Armbanduhr ja ein ganz seltenes Schnäppchen. Sie ticke zwar nicht richtig, aber lohne sich nur schon wegen des Zifferblatts.
Die andere Sorte von Brockenstubenbesitzern findet man erst, nachdem man eine Weile im Laden umhergegangen ist und altes Silberbesteck oder einen Traumfänger zum Klirren gebracht hat. Tief eingesunken, sind sie eins geworden mit dem abgewetzten alten Ledersessel, an dem man sich schon dreimal vorbeigeschoben hat. Bemerkt hat man vorher nur den Geruch – Pfeifenrauch, Staub, ein wenig Rasierwasser. Geweckt vom Traumfänger hieven sie sich aus dem Sessel und fragen, wonach man denn suche. Diese Sorte Menschen sind meistens misstrauisch und wollen eigentlich gar nichts verkaufen. Es ist alles zu wertvoll, und die Schnösel, die sich „Kunden“ schimpfen, wissen gar nicht, was sie gerade für ein Juwel in den Fingern halten. Selbst wenn es ein alter Knopf ist. Denn diese Sorte von Trödelladenbesitzern sind Sammler, die sich nur als Händler ausgeben.
Der alte Herr, dem Riris Lieblings-Brocki gehörte, war einer von ihnen und hiess Herr Lethe. Er führte keinen Antiquitätenladen, sondern eben eine Brockenstube, und ja, es war wirklich seine Stube. Er hatte keine andere Wohnung und war also auch nach Ladenschluss im Geschäft. Was ein bisschen traurig tönt, fand er selber genial: Weshalb sollte er eine teure Wohnung mieten, wenn es hier doch alles, was es zum Leben braucht, zur Genüge gab? Er ass jeden Tag von einem anderen Teller, schlief jede Nacht in einem anderen Bett. Na ja, fürs Duschen musste er jeweils ins Hallenbad, aber sonst lebte er im Überfluss, und über ihm an der niedrigen Decke hingen mehr Kronleuchter als in einem königlichen Empfangssaal.
Dass er im Laden lebte, durfte natürlich niemand wissen, ansonsten hätte er Probleme mit den Behörden gekriegt. Und es wusste auch niemand davon – ausser das lebende Brocki-Lexikon Riri. Es waren Kleinigkeiten, die ihren Verdacht erhärteten, aber die häuften sich. So bemerkte sie zum Beispiel, dass die alte Kaffeemaschine, die anscheinend niemand kaufen wollte, innen nicht immer gleich sauber, beziehungsweise dreckig war. Sie wurde also benutzt. Fast jedes Mal, wenn sie vor zehn Uhr morgens im Laden auftauchte, hing ein leichter Kaffeegeruch zwischen den Kristallleuchtern. Auch bemerkte sie, dass Herr Lethe hin und wieder Kleider trug, die in den Wochen zuvor und auch danach zum Verkauf angeboten wurden.
Der Durchschnittsbesucher nahm den Brocki-Besitzer meistens gar nicht wahr, sah bereits nach kurzer Zeit ein, dass in diesem Chaos ohnehin nichts zu finden war und verliess den Laden schon nach wenigen Minuten. Das war dem alten Herrn gerade recht, denn er hatte nur ungern Fremde im Wohnzimmer. Daran ist nichts auszusetzen.
Ganz anders verhielt es sich, wenn Riri und Viktor vorbeischauten. Dann blühte er regelrecht auf. Die beiden waren seine wohl einzigen gern gesehenen Gäste. Nicht zuletzt deshalb, weil sie praktisch nie etwas kauften. Riri nannte ihn „das alte Haus von Brocki-Tocki“, und er lachte jedes Mal über diesen Witz, als hätte er ihn gerade zum ersten Mal gehört. Man konnte wirklich fast nicht sagen, was älter war: das Haus, der Besitzer oder die Dinge, die man dort kaufen konnte.
Aber weshalb dieser Ort Riris Lieblings-Brocki war, hatte einen ganz anderen Grund; und zwar ein weiteres Geheimnis, von dem sie niemandem erzählte.
Es gab dort nämlich eine riesige Pfeffermühle, die – man glaubt es nicht, wenn man es nicht mit eigenen Ohren gehört hat – tatsächlich sprechen konnte! Sie erwachte zum Leben, wenn man einmal kräftig an ihr drehte, wie man es halt mit Pfeffermühlen eigentlich immer tut.
Warum das vor ihr noch niemand herausgefunden hatte, war Riri klar. Die Leute trauten sich kaum, unter dem strengen Blick Herrn Lethes irgendetwas anzufassen. Weder Besteckschatullen, noch alte Fotoalben oder sonst etwas. Im Fall der Mühle hätten ausserdem noch alte Pfefferkörner im Getriebe sein können, und niemand, wirklich niemand, wollte im Laden des Alten eine Sauerei veranstalten. Und so imposant derart grosse Pfeffermühlen erscheinen, allzu beliebt sind sie nicht. Sie sind zwar schön anzusehen und auf den ersten Blick irgendwie witzig, aber sie passen schlicht in kein Küchengestell. Riri hatte jedoch kein Küchengestell zu füllen und auch keine Angst vor einer Sauerei. Eines Tages drehte sie also in einem ruhigen Moment einmal kräftig an der Mühle. Es knirschte. Und dann:
„Na endlich! Ich bin ja wortwörtlich fast durchgedreht, so lange musste ich schweigen, Peperoncini nonemal!“
Riri erschrak natürlich zünftig über diese unfassbare Entdeckung – eine sprechende Pfeffermühle?! Doch gleichzeitig musste Riri auch lachen. Aber nicht so, wie man über einen Witz lacht. Es war so ein Lachen, das sie selbst fast ein bisschen überraschte. Weil, wenn man mutterseelenallein ist, lacht man ja meistens lautlos. Und nun lachte sie laut, allein unter Tausenden aus der Zeit gefallenen Gegenständen. Einfach so. Also, nicht einfach so, sondern wegen einer sprechenden Pfeffermühle.
Ihr Vater war irgendwo bei den Büchern, und Herr Lethe, das alte Haus, döste bei der Kasse, so dass die beiden weder das Lachen noch das Gezeter der Pfeffermühle hörten. Sie lästerte über jedes Salzstreuerli und jeden Eierbecher ab. Das alles kam so unerwartet und so frech, dass Riri fast nicht aufhören konnte zu lachen. Irgendwann tauchte aber dann doch Viktor auf. „Was machst denn DU bei den Küchengeräten? Das ist ja mal ganz was Neues“ – und Riri stellte die Pfeffermühle hastig hin. Diese schwieg sofort. Als hätten sich die beiden stillschweigend darauf geeinigt, dass ihre kurze Unterhaltung ein Geheimnis zu bleiben habe.
Nach dieser unglaublichen Entdeckung steuerte Riri bei jedem Besuch direkt in Richtung Küchenabteilung. So auch heute. Während ihr Vater seine übliche Runde drehte, drehte sie an der Mühle. „Was hast du heute zu meckern?“, fragte sie dann belustigt.
Die Mühle liess nicht lange auf sich warten und legte los:
„…