"Tag 14" – Eine Geschichte von Romina Kreuter - Young Circle

«Tag 14» – Eine Geschichte von Romina Kreuter

Member Stories 2024

«Tag 14» – Eine Geschichte von Romina Kreuter

In einem emotionalen Dilemma steht Betty vor der Entscheidung, ob sie das Leben ihres Ehemanns James, der seit 14 Tagen im Koma liegt, beenden soll, nachdem ihre Beziehung durch Betrug und Missverständnisse zerrüttet wurde. Während sie die Last dieser schweren Wahl trägt, muss sie sich mit der schmerzlichen Realität ihrer Vergangenheit und der schwindenden Hoffnung auf eine zweite Chance auseinandersetzen.

Die unausgesprochenen Worte schreien lauter als alles andere.

Aber wenn er vor mir liegt, hilflos ans Bett gefesselt, mit Schläuchen aus jeder Körperöffnung, weiss ich nicht, was ich denken soll.

Heute ist Tag 14.

Seit 14 Tagen liegt James im Koma. Zwei Wochen sind vergangen, seit er von einem Bus angefahren wurde. Wir hatten seit Monaten nicht miteinander gesprochen, aber der Klang seines Namens stach mir ins Herz, als die Krankenschwester mir am Telefon sagte: «Ihr Ehemann James Price ist in einen schweren Unfall verwickelt!»

Was sollte ich anderes tun, als ins Krankenhaus zu eilen?

Wir waren noch nicht offiziell geschieden. Seit er mich verlassen hatte, war jeder Tag ein Kampf. Ich hatte immer im Hinterkopf, dass es nur noch aufwärts gehen kann.

Doch nun bin ich hier, auf dem Plastikstuhl, starre in die weisse Leere der Krankenhauswand, umringt von piependen Maschinen. Auf dem kleinen Tischchen vor mir stehen die Reste meines Abendessens. Mein Blick schweift zu seinem Gesicht. Ich erkenne ihn kaum wieder, sein Gesicht ist geschwollen und voller blauer Flecken. Seine dunklen Augen sind geschlossen, wie sie es seit 14 Tagen immer sind.

Wut steigt in mir auf, wenn ich mir diese verlogenen Augen vorstelle. Er machte mich zur Bösen. Er beschuldigte mich, dass ich mit meiner Boshaftigkeit und meinen Kerzen alles zerstört hätte.

Seine Affäre, die er abends in unsere Wohnung brachte, wenn ich eine Nachtschicht arbeiten musste, wollte auf keinen Fall von mir, seiner Ehefrau, bemerkt werden.

Als ich erfahren hatte, dass er mich betrog, war mein Herz gebrochen. Ich brachte es nicht über mich, ihn direkt zu konfrontieren. Die Affäre sollte sich selbst erledigen. Also hatte ich eine meiner Kerzen für den ungebetenen Gast auf dem Esstisch brennen lassen. Jeden Abend, bevor ich zur Nachtschicht antrat, schloss ich die Wohnungstür hinter mir und sperrte den trügerisch flackernden Hoffnungsschimmer in unserer Wohnung ein. Sie war nicht dumm, sie merkte, dass ich es wusste. Sie sah die Kerzen und mit jedem Mal, wenn ich eine brennen liess, wurde James’ Laune unerträglicher, bis er eines Nachts nicht mehr heimkam.

Ich erhielt nie meine gewünschte Rechtfertigung von ihm. Nur einen Brief im weissen Umschlag, der am Tag danach ganz allein auf dem viel zu grossen Esstisch lag. Der Brief, der noch Stunden dort lag, weil ich mich nicht traute ihn zu öffnen. Stunden, in denen ich auf ihn wartete, dass wir uns aussprechen konnten. Unwissend, dass er niemals wieder ein Wort zu mir sagen würde. Ein zerknittertes Stück Papier mit einfachen Worten, für die er niemals den Mut gehabt hätte, sie laut auszusprechen. Er hat alles zerstört, ganze acht gemeinsame Jahre einfach weggeworfen.

«Das ist Betty, meine Ehefrau und die Liebe meines Lebens.» Worte, die er niemals sagte.

Im Nachhinein betrachtet war ich immer nur ein kleiner, lästiger Fleck in seinem blütenreinen Leben.

Ich dachte, unsere Ehe würde sich wieder einpendeln, mit der Zeit. James, mein James, er würde die Situation handhaben. Doch er brachte es in drei Monaten nie über sich, ein einziges Wort zu mir zu sagen. Für ihn war ich nur ein Problem, das nichts mehr benötigte als einen lieblosen Brief, der alles beendet.

Eine dicke Träne rollt meine Wange herab. Ich bin so unglaublich erbärmlich.

All das, und trotzdem sitze ich seit zwei Wochen jeden Tag an seiner Seite.

Heute ist Tag 14, an dem James im Krankenhaus ist. Er ist am Sterben. Ich weiss es. Ich fühle es. Auch wenn es niemand laut aussprechen will. Eine der vielen Ärztinnen tritt in sein Zimmer.

«Mrs. Price?»

Ich erschaudere. Ich trage immer noch seinen Nachnamen. «Nennen Sie mich Betty.»

Ich blicke in ihre traurigen Augen. «Was gibt es?»

«Heute ist Tag 14. Ihr Mann hat in seiner Patientenverfügung geschrieben, ich zitiere: Wenn es im Falle eines Unfalls nach 14 Tagen keine Verbesserung meines Zustandes gibt und ich von Maschinen am Leben gehalten werde, dann sollen jegliche lebenserhaltenden Massnahmen, nach Konsultation mit meiner Ehefrau Betty Price, ausgeschaltet werden, um mich meinem Schicksal zu überlassen.»

Sie starrt mir lange in die Augen. Ich weiss, was dort steht. Wir haben es zusammengeschrieben.

Ich schüttle den Kopf. James, mein James. Die Liebe meines Lebens. Alles wurde von ihm zerstört. Und jetzt soll ich diejenige sein, die über sein Leben entscheidet? Ich war die Einzige, die seinen bevorstehenden Tod noch verhindern konnte, die Ärzte sind der Patientenverfügung gebunden.

«Ich bin nicht seine Ehefrau. Nicht mehr.», ist das Einzige, was ich hervorbringe.

«Rechtlich gesehen sind Sie noch verheiratet, auch wenn sie lange keinen Kontakt hatten. Sie müssen intervenieren, wenn sie es für sinnvoll halten.»

Eine weitere Träne rollt meine Wange herab. Die Entscheidung sollte doch einfach sein, oder? Sollte ich nicht aufspringen und rufen, dass sie keinesfalls die Maschinen ausschalten dürfen? Dass sie meinen James retten müssen?

«Ziehen Sie den Stecker.» höre ich mich selbst sagen.

Die Ärztin nickt nur.

Stunden vergehen bis endlich, mitten in der Nacht, das ganze Ärzteteam von James ins Zimmer tritt. Keiner sagt etwas, nur das Piepen der Monitore und das regelmässige Zischen der Beatmungsmaschine ist zu hören.

Der Oberarzt tritt an einen der vielen Bildschirme, drückt irgendwelche Knöpfe und die ersten Lämpchen erlöschen. Die junge Ärztin tritt hervor, mein Puls beginnt zu rasen.

Langsam wagt sie sich an James heran, nimmt den Beatmungsschlauch fest in die Hand und entfernt ihn sorgfältig. Die rhythmischen Töne des Beatmungsgeräts verstummen. Ich zittere am ganzen Körper und starre auf den Herzmonitor, gleich über seinem Kopf. Das Piepen wird immer schwächer, bis die grünblinkende Linie komplett abflacht. Alles, was übrig bleibt ist ein konstanter Piepton. Die letzten, blinkenden Lichter werden vom Oberarzt deaktiviert und der Monitor verstummt. Stille erobert den Raum.

Der Oberarzt sucht nach seinem Puls, vergebens.

«Betty, Sie mussten eine Entscheidung fällen, die keiner in seinem Leben treffen müssen sollte.»

Seine Worte prallen an mir ab. Meine Welt scheint zu kollabieren. James ist tot.

Ich nehme seine kalte, leblose Hand ein letztes Mal und flüstere: «Es hat mich tief getroffen, dich zu kennen.»

Die Kirchenglocken läuten Mitternacht. Tag 14 ist vorüber.

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