"Sweet Regret" – eine Geschichte von Laura Spartà - Young Circle

«Sweet Regret» – eine Geschichte von Laura Spartà

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«Sweet Regret» – eine Geschichte von Laura Spartà

Er hatte Recht. Warum hatte ich ihn nicht umgebracht? Was war bloss in mich gefahren? Wenn ich ihn anschaute, wurde mir jedoch mit einem Schlag klar, warum ich es nicht getan hatte.

«Edric Hjarta», zischte ich seinen Namen, während ich ihm den Dolch an die Kehle drückte. Mit meinem ganzen Körper presste ich ihn gegen den Felsen, damit er sich nicht wehren konnte. Doch dazu hatte er sowieso keine Chance mehr, gleich würde er sterben. Gleich würde ich meiner Mutter beweisen können, wozu ich fähig war.

Doch dann tat ich einen grossen Fehler. Ich blickte in seine Augen. Sie waren dunkelbraun, ja, fast schon schwarz, und in der Mitte zierten goldbraune Sprenkel seine Iris. Gott, so schöne Augen sollten verboten werden unter den Elfen. Nicht ablenken, Meyra, bring deinen Auftrag zu Ende, versuchte ich mir selbst einzureden, doch ich schaffte es einfach nicht, den Blick abzuwenden. Je länger ich in seinen Augen versank, desto schwieriger wurde es, mich loszureissen. Ein erstickter Laut drang aus ihm und erst jetzt wurde mir sein schmerzerfüllter Blick bewusst. Instinktiv liess ich von ihm ab. Zur Sicherheit trat ich noch einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. Was tat ich hier eigentlich?

Edric wirkte verwirrt, fasste sich aber deutlich schneller als ich. Mit einem Stöhnen strich er sich über die Stelle am Hals, an dem ihn zuvor meinen Dolch einen Druck versetzt hatte. Dann räusperte er sich. «Wieso hast du es nicht getan?», fragte er. Obwohl er leise sprach, vibrierte seine tiefe Stimme in meinem Körper. Er hatte Recht. Warum hatte ich ihn nicht umgebracht? Was war bloss in mich gefahren? Wenn ich ihn anschaute, wurde mir jedoch mit einem Schlag klar, warum ich es nicht getan hatte. Wie könnte ich es über mich bringen, jemanden wie ihn umzubringen? Nicht, dass ich noch nie jemanden umgebracht hätte, daran lag es nicht. Allerdings waren meine früheren Opfer nicht so gutaussehend wie Edric. Doch das behielt ich für mich. Während ich schwieg, scannte er mich von oben bis unten. Mir entging nicht, wie sein Blick an meinem Oberkörper hängenblieb. Dann schaffte er es tatsächlich, ein Grinsen zustande zu bringen – und das, obwohl er kurz zuvor noch in Lebensgefahr geschwebt hatte.

«Na, wenn das mal nicht Meyra Andir, die Prinzessin höchstpersönlich ist.» Ich verdrehte schnaubend die Augen. «Jaja, die rebellische Prinzessin, die niemand auf dem Thron sehen will. Was willst du hier? Das ist unser Gebiet.» Drohend hob ich meinen Dolch, hatte jedoch nicht vor, ihn erneut anzugreifen. Nun war es an ihm, die Augen zu verdrehen. «Ach, ihr Vaelins nehmt wieder mal alles viel zu streng. Genau genommen war hier mal neutrales Gebiet, ehe ihr es für euch beansprucht habt.» Spätestens jetzt hätte ich gewusst, dass es sich bei dem Elf vor mir um einen Laerke handelte. Diese Wieso-nehmt-ihr-alles-so-streng- das-spielt-doch-keine-Rolle-Einstellung hatten wir definitiv nicht. Und wir trauten den Laerkes auch nicht über den Weg, denn immer, wenn sie sich als freundlich ausgaben, führten sie etwas im Schilde. So war das bei uns: die Laerke und die Vaelin – zwei Elfenvölker, die sich schon seit Jahrhunderten nicht ausstehen konnten.

Er machte einen Schritt auf mich zu, doch ich wich ihm aus. Mein wild klopfendes Herz verwirrte mich gerade mehr als alles andere, denn ich wusste, dass es nicht aus Angst so schnell schlug. «Weisst du, Meyra Andir, eigentlich hatte ich den Auftrag, dich umzubringen.» «Dann sahen unsere Aufträge ja gleich aus», murmelte ich verwirrt. Es erklärte auf jeden Fall, warum er auf mich losgegangen war. Unser Kampf dauerte nur wenige Minuten, denn ich hatte sehr schnell die Oberhand gewonnen. Jetzt allerdings standen wir hier und er erzählte mir von seinem Auftrag.

Laerkes gaben ihre Pläne nie preis.

«Ihr seid zwar gut darin, es zu vertuschen, doch mittlerweile weiss unser ganzes Volk über eure Lage Bescheid. Deine Mutter ist schwerkrank, weigert sich aber, dir den Thron zu überlassen. Da du ihr einziges Kind bist und es bei ihr sowieso nur noch eine Frage der Zeit ist, bis sie endlich tot ist, wirst du ihren Platz übernehmen müssen. Wenn du allerdings auch stirbst, bricht euer Volk in komplettes Chaos aus. Und da kommen wir ins Spiel.» Er grinste. «Da grosse Unruhe herrschen wird und alle abgelenkt sind, nutzen wir die Gelegenheit, unbemerkt in euere Gebiete zu kommen. Und den Rest kannst du dir ja denken.» Ich schnaubte. War ja klar, dass sie wieder einen Krieg starten wollten. Allerdings … «Warum erzählst du mir das alles?» Er zuckte immer noch grinsend mit den Schultern. «Als ich dich vorher kämpfen gesehen habe, habe ich mich umentschieden. Du scheinst Potenzial zu haben und könntest uns noch von grossem Nutzen sein.»

Er kam einen Schritt näher, diesmal wich ich ihm nicht aus. «Was hältst du davon, die Seiten zu wechseln? Ganz ehrlich, in einem Krieg hättet ihr sowieso keine Chance, deine Mutter stirbt so oder so, und dann wirst du alleine dastehen. Bei uns allerdings hättest du die Möglichkeit, dein Talent richtig zu nutzen. Ich verspreche dir, bei uns wird dein Können mehr angesehen, als in deinem kleinen Palast, wo alle nur erwarten, dass du besser als deine Mutter wirst.» Diese Aussage traf mich mehr, als ich zugeben wollte. Skeptisch verschränkte ich die Arme. Den Laerkes konnte man nicht trauen. Und doch war da etwas an seinen Worten…

«Und was sollte mich dazu bringen, zu euch zu kommen? Was, wenn ich am Leben bleibe und den Krieg zu verhindern weiss?» Herausfordernd sah ich ihn an. Jetzt trat er noch näher, so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte. «Naja…» Im nächsten Moment küsste er mich. Völlig perplex stiess ich ihn von mir, nur um ihn gleich darauf wieder zu mir zu ziehen. Ich drückte meine Lippen gegen seine, vielleicht etwas zu stürmisch. «Lass mich deine Worte überdenken», hauchte ich zwischen zwei Küssen. Er erwiderte meine Küsse. «So viel Zeit bleibt mir leider nicht», raunte er, während sich seine Hände in meinen Haaren vergruben. Ich hielt inne, doch da spürte ich schon die scharfe Dolchspitze in meinem Nacken. «Was zum…», setzte ich an, doch da stach er schon zu. Mit einem Mal wurde alles schwarz.

Was hatte ich bloss getan?

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