"Dieses uralte Gefühl" - eine Geschichte von Caroline Lengyel - Young Circle

«Dieses uralte Gefühl» – eine Geschichte von Caroline Lengyel

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«Dieses uralte Gefühl» – eine Geschichte von Caroline Lengyel

Tee war schon seit zweihundert Jahren sein Lieblingsgetränk. Obwohl das meiste Wasser inzwischen sauber und bedenkenlos trinkbar war, frei von jeglichem Schmutz und jeglichen Giften, trank er es nur selten ohne Zusatz.

Ohne diese Gefahren langweilte es ihn fast, einen Schluck davon zu nehmen.  Zu Alkohol versuchte er seit den letzten Jahrzehnten einen respektvollen Abstand zu halten, gegen Milch hatte er eine Allergie und Kaffee… Er schaute auf das Braun in der Tasse, öffnete noch ein Päckchen und gab den Zucker hinzu. Geduldig beobachtete er ihn beim Sinken, rührte um und probierte erneut. Ein Schaudern überkam ihn. Zum einen wegen des noch immer bitteren Geschmacks und zum anderen da er an die Sklaverei auf den Plantagen, die ausgemergelten, verzweifelten Gesichter dachte.

Aber auch, nachdem diese Abscheulichkeit abgeschafft worden war, hatte er dem Getränk nicht getraut. Jahrelang hatte er das Gebräu gemieden, war er doch schon unzählige Male Zeuge der Eigenartigkeit von Menschen gewesen. Die neuen paar Generationen waren ihm jedoch etwas hinterfragender erschienen und tranken das Getränk nun schon seit einer Weile (was für ihn ein paar Jahrhunderte bedeuteten). Sicher, manche stürzten es wie Wahnsinnige herunter und brüsteten sich, wenn sie ihm ohne das Gesicht zu verziehen standhielten, was auch bei Alkohol der Fall war, aber er sah doch auch eine beträchtliche Menge, die es einfach zu mögen schien und keine Nebenwirkungen davontrug.

Nach jahrelanger Unsicherheit hatte er sich schlussendlich auf eine gründliche Recherche begeben und war zum Schluss gekommen, dass sogar manche Teesorten gefährlicher waren. Nachdem er sich von dem Schock erholt hatte, dass mehrere seiner Lieblingssorten wohl doch nicht so unbedenklich waren, hatte er seinen ersten Schluck Kaffee getrunken. Damals war ihm die Bitterkeit schon zuwider gewesen und genauso war es immer noch. Aber er hatte es der Serviertochter nicht noch schwerer machen wollen.

Die arme hatte hinter der Glasvitrine gestanden, das Telefon mit einem kleinen Sicherheitsabstand zum Ohr, damit ihr Gehör von dem daraus ertönenden Gebrüll keinen Schaden nehmen würde, hatte bedrückt zu Boden geschaut, als der Anrufer plötzlich leiser geworden war und in einem beunruhigend langsamen Ton fortgefahren war: Sie sei eine Schande für die ganze Familie, wenn sie denn überhaupt noch dazugehörte. Darauf war seine donnernde Stimme für jeden Menschen und auch jedes andere Wesen in dem Café hörbar gewesen. ,,Wir hätten damals einfach strenger mit dir sein müssen. Keine albernen Freundschaftstreffen, keine Drittklassliteratur. Dieser Unsinn hat dich dumm gemacht, da muss man nur deinen Beruf betrachten! Und deine Freizeitbeschäftigungen sind das Hinterletzte! Vor allem diese Umweltverschwörung! Dass du das auch noch zu deinem Beruf machen willst!“ „Es ist keine Verschwörung, sondern basiert auf Fakten und ich kenne mich da wirklich gut aus und bin laut meines Professors qualifiziert fü“ – ,,Sei jetzt still, du hast genug geredet. Du verschwendest damit deine Zeit und meine.“

Schliesslich hatte er sich etwas beruhigt.  „Das hat ja sowieso keinen Sinn, wenn du von nichts etwas verstehst.“ Dann hatte er noch ein paar Beleidigungen gemurmelt; was für ein armer Mensch er doch sei, so eine Person wie seine Tochter überhaupt zu kennen. Die Frau hatte ihre müden Augen kurz geschlossen, eingeatmet und ihre zittrige Stimme erhoben: „Wenn ich dieses Semester bestehen will, kann ich keine andere Arbeit machen. Es gibt keine andere, bei der die Zeiten stimmen, und ich brauche genug Schlaf, damit ich wenigstens eine Chance habe. Aber ich kann natürlich das Studium aufgeben, ich wollte es ja sowieso nie.“ –  ,,Was fällt dir ein?“ war noch vom Vater zu hören gewesen, da hatte die Tochter ihn schon unterbrochen: „Und jetzt entschuldige mich, die Kundschaft wartet. Du willst doch sicher nicht, dass ich überhaupt keinen Job mehr habe!“ Mit diesen Worten hatte sie aufgelegt, eine Waffel in das Dessert vor ihr gesteckt, das Eis mit dem Material gnadenlos durchbohrt, und die geschmolzene Sauce darauf verteilt. Sie hatte mehrere Male geblinzelt und einen verkrampften Gesichtsausdruck gemacht, bis sie die Tränen nicht mehr hatte aufhalten können, schnell eine Tasse geholt, auf den Knopf der Kaffeemaschine gedrückt, und sich mit einem frischen Taschentuch eine der äusseren Spuren des Anrufs vom Gesicht gewischt hatte.

Mit der einen Bestellung und dem nichtbestellten Kaffee war sie an seinen Tisch gekommen und hatte ihm und seinem Begleiter leise einen guten Appetit gewünscht. Er hatte den Kaffee angenommen. „Vielen Dank. Und machen Sie sich nichts daraus.“, hatte er mit einem aufmunterndem Lächeln zu ihr gesagt, was ihren Gesichtsausdruck etwas aufgehellt hatte. Nachdem sie gegangen war, hatte er seine Besprechung mit Alberto fortgesetzt.

Momentan sammelten sein Arbeitskollege und er Möglichkeiten, Leute aufzufordern, Gutes für die Umwelt zu tun. Für jemanden, der so lange lebte wie er, war das selbstverständlich von extremer Wichtigkeit. Aber das durfte sein Gegenüber nicht wissen. Zu gefährlich wäre es, wenn der Professor über ihn Nachforschung betreiben würde.

Obwohl er die Spuren seiner Anwesenheit über die Jahrhunderte gut verwischt hatte, hatte er mit der Digitalisierung zunehmend mehr Mühe gehabt. Und auch wenn Unsterbliche im Internet nicht mehr so interessant zu sein schienen, so würde eine derartige Entdeckung dennoch ein schieres Weltwunder sein. Forscher, Politiker, Theologen, Entertainer, alle Welt würde sich ihn, das Spektakel, nicht entgehen lassen. Alleine schon sein enormes Wissen könnte die Sicherheit dieser Welt gefährden: Alle würden ihn befragen wollen, diejenigen, die nicht dazu kämen, würden ihn einen Lügner, Verrückten oder beides schimpfen.

Aber seine Existenz, oder genauer die Länge davon, war von noch viel grösserer Gefahr für ihn. Man würde ihn einsperren, Experimente an und nicht mit ihm durchführen, sich damit rechtfertigen, dass das Leben aller Menschen im Gegensatz zu dem eines einzelnen Wesens, das vielleicht gar kein Mensch war, ganz klar wichtiger sei. Dann würden sie sich nicht mehr halten und alle möglichen Dinge an ihm ausprobieren, ihn eventuell versuchen als Kriegswaffe einzusetzen. Sie würden ihn nicht als einen der ihren respektieren, sondern ihn so fremd wie möglich, so unverletzlich wie möglich darzustellen versuchen.

Zuweilen fragte er sich, ob ihm dann irgendein normaler Mensch helfen würde, oder was sie von ihm denken würden. Würde er mit Alberto weiterarbeiten können? Würde die Serviertochter genauso vor ihm zurückschrecken wie vor ihrem Vater? Könnte er noch normal durch die Strassen gehen? Wäre er in seiner eigenen Wohnung überhaupt noch sicher? Was würden sie mit ihm anstellen?

Manchmal, wenn sie wieder etwas ganz Schlimmes getan hatten, dachte er daran, wie skrupellos sie mit ihm umgehen würden. Er stellte sich ein Gefängnis vor, mit Schlange stehenden Untersuchungsgeräten und Menschen und ihm selbst mitten drin. Sie würden nicht hören wollen, wenn er ihnen von seinen Selbstexperimenten erzählen und zu erklären versuchen würde, dass er nicht der Schlüssel zu einem Heilmittel sei, auch nicht zu einem noch so kleinen. Alles was sie tun würden, wäre, ihn mit Betäubungsmitteln oder Gewalt zu überrumpeln und mit einem Experiment zu beginnen.

Womöglich waren das nur seine Ängste, die sich im Laufe der Jahrhunderte fest in seine Gedanken gefressen hatten. Er wusste es nicht. Man konnte ja nie wissen, vielleicht würden sie ihn auf Händen tragen und anbeten. Aber wie auch immer es sein würde, er wusste, dass er sein Leben nicht würde frei weiterführen können. Und das wollte er unbedingt vermeiden. Er müsste geliebte Leute aufgeben, Leute, die so waren wie er, die er vielleicht in Gefahr bringen könnte. Leute, die seine Hilfe brauchten, Leute, deren Hilfe er brauchte.

Er wäre den Menschen frei ausgesetzt. Und trotz aller dieser Nachteile, die so schrecklich waren, war dies der schlimmste von allen.

In der ganzen Zeit, die er schon gelebt hatte, hatte er vieles gesehen: Hunger, der die Armen traf. Krankheit, die auch vor den Reichen nicht zurückwich. Unwetter, Überschwemmungen, Erdbeben, Vulkanausbrüche, die nicht mal die Häuser verschonten. Und obwohl all diese Dinge schon genug gewesen wären, hatten es die Menschen immer wieder geschafft, die Umstände zu verschlimmern. Ihr Neid, ihre Wut, ihr Egoismus, ihre Gier trieb sie zu unverzeihlichen Taten, die noch heute in der Weltgeschichte standen. Und was taten die Menschen? Sie machten Filme, in denen sie die Geschehnisse verdrehten, sahen über fürchterliche Ereignisse hinweg, um eine epische Kriegsszene zu drehen, glorifizierten, wo es ihnen passte, und veränderten Tatsachen, wenn es nicht zu anstrengend war. Sie ignorierten oft, dass die Geschichte manchmal schlicht von den Siegern geschrieben wurde. Damit bombardierten sie Raum für Diskussionen, Gedanken darüber, was man tun könnte, um Schlimmes zu verhindern. Er konnte ihnen dies zu einem gewissen Grad verzeihen, war es doch nicht so schlimm wie die ursprünglichen Taten, die sie nicht wahrheitsgemäss oder vollständig wiedergaben. Viel schlimmer waren die Sieger, die es nicht verdienten. Sie mochten wohl Arbeit geleistet haben, jedoch grausame Arbeit. Zu viele hatten darunter leiden müssen, waren zugrunde gegangen und waren ums Leben gekommen. Obgleich diese Sieger nicht immer wortwörtliche Leichenspuren hinterliessen, waren sie für ihn unverkennbar. Sie dachten nach einem Erfolg, ihnen stünde nichts mehr im Weg, und wenn es das dennoch tat, wurden sie wütend und schlugen es ein. Sie erkannten, dass sie nicht gemocht werden mussten, um gewisse Dinge zu erreichen. Nicht so wie er, der es in Kauf nahm, nicht zu einem Sieg zu gelangen, wenn er dafür den Weg gegangen war.

An gewissen Tagen reichte eine Handvoll unnötig abfälliger Kommentare oder Beleidigungen von solchen Leuten aus, um seine Erinnerungen wie einen Sturm in ihm zum Toben zu bringen, mit Bildern von geliebten Freunden, die wegen solchem Abschaum ihr Leben verloren hatten, verlorenen Weggefährten, der Liebe seines Lebens, wie sie tot in seinen Armen gelegen hatte, seinen Gefühlen, die er bei diesen Schicksalsschlägen erlitten hatte, bis all die Wut von dem Schmerz sich in blosse Traurigkeit verwandelte und ihn dazu bringen wollte, einfach die Hoffnung aufzugeben und nur nie mehr damit konfrontiert werden zu müssen.

Er könnte um ein Leichtes verschwinden, die Menschen sich selbst zerstören lassen und nur noch unter Gleichgesinnten leben. Doch da war dieses Gefühl, das er schon früh in seinem Leben kennengelernt hatte und das er mitunter auch bei dem einen oder anderen Menschen bemerkte, das ihm dies unmöglich machte.

Er flüsterte Alberto kurz eine Idee zu, worauf dieser für einen Moment den Kopf schüttelte: „Zur Zeit können wir keine Neuen mehr bezahlen. Und wer würde sich schon freiwillig melden?“ Er flüsterte ihm erneut etwas zu, das Alberto seine Augenbrauen überrascht in die Höhe heben liess. ,,Nicht dein Ernst? In diesem Bereich findet sich nicht so leicht eine andere bezahlte Stelle geschweige denn eine mit anständigem Gehalt. Wo würdest du denn sonst arbeiten? Und wie kannst du sicher sein, dass man dich überhaupt annimmt, in diesen Zeiten ist das nicht so leicht.“ Ja, das stimmte. Und er musste sich schnell überlegen, wie er Alberto davon überzeugen könnte, dass er zumindest für einen gewissen Zeitraum keine Arbeit brauchen würde. Er hatte mehr als genug, um über die Runden zu komme, brauchte aber aufzupassen, dass man nicht hinter den Grund für seinen Reichtum kam und ihn für einen Dieb oder hilfebedürftigen Arbeitslosen hielt. Welche Ausrede sollte er nehmen? Nochmals von einem Verwandten erben konnte er nicht, bald würden diese nämlich einen ganzen Friedhof füllen, würden sie denn existieren. Wie wäre es mit einem Gewinnspiel? Alberto würde ihn sicher darauf aufmerksam machen, dass es wahrscheinlich ein Schwindel war, den man nutzte, um an seine Daten zu kommen. Und nachprüfen könnte er auf der Website, auf der er natürlich nicht als Gewinner verzeichnet wäre. Ah, er hatte eine Idee!

Einen Augenblick später winkte Alberto die Serviertochter herbei. ,,Ich wollte natürlich nicht unhöflich sein, meine aber gehört zu haben, dass sie auf der Suche nach einer Stelle im Bereich Klimaschutz sind. Bei uns ist nämlich gerade eine frei geworden…“

Zehn Minuten später hatten sie, oder wohl eher Alberto, eine tatsächlich topqualifizierte neue Mitarbeiterin. Nachdem sie beinahe in die Lüfte springend den Tisch verlassen hatte, wandte sich Alberto an seinen Tischnachbarn. „Dein Mitleid wird dich eines Tages noch mehr als den Job kosten. Dein Leben sogar, da bin ich mir ziemlich sicher.“ Der Angesprochene betrachtete schmunzelnd den Kaffee. Ja, dachte er, wenn ich so leicht sterben könnte, hätte es das schon längst getan.

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