"Stillstand" – Eine Geschichte von Fiona Strebel - Young Circle

«Stillstand» – Eine Geschichte von Fiona Strebel

Member Stories 2024

«Stillstand» – Eine Geschichte von Fiona Strebel

In einem bewegenden Moment der Stille konfrontiert der 17-jährige Eren seine eigene Sterblichkeit, während er seinen geliebten Bruder Noel und seine Eltern in einer Zeit des Abschieds und des ungewissen Wartens zurücklässt. Zwischen Erinnerungen und letzten Worten versucht er, den Schmerz des bevorstehenden Verlusts zu verarbeiten und gleichzeitig Trost in der Liebe seiner Familie zu finden.

Was würdest du tun, wenn alles plötzlich stillsteht? Wenn deine Welt aufhört zu arbeiten. Meine hat das schon lange. Es wurde einfach nicht bemerkt.

Ich sitze in meinem Zimmer und starre die Wand an. Aus Gewohnheit greife ich an mein Handgelenk und fühle meinen Puls.

Mein Herz schlägt.
In einem regelmässigen Tempo.
Langsam, aber doch beständig.

Schon irgendwie komisch zu wissen, dass es dies bald nicht mehr tun wird.

Ich denke an die letzten Stunden zurück. Wo mir mein Arzt etwas beibringen wollte, was niemand lernen kann.
Die Tatsache bald zu sterben. Wenn mir das ein paar Monate früher erzählt worden wäre, hätte ich gelacht und dieser Person nicht geglaubt.

Ja, mir ging es schon damals schlecht. Aber ich hatte noch Hoffung. Hoffung, es schaffen zu können.
Diese Hoffung besteht nun nicht mehr.

Ich weiss, dass der Arzt nun versucht das Ganze meinen Eltern beizubringen. Und dass sie es schlechter aufnehmen werden als ich. Tief in meinem Innern wusste ich es bereits. Es musste mir nur noch gesagt werden.

Wenn der Tod einem so nahe ist, nimmt man alles bewusster wahr. Die Atemzüge, die immer selbstverständlich waren und die Lebendigkeit, die man immer hatte. Es wird einem bewusst, bald alles nicht mehr zu haben. Zu gehen. Ja, man muss sich bewusstwerden, zu gehen. Alles zurückzulassen, was einem wichtig ist.

Ich habe mich schon immer gefragt, was nach dem Tod kommt. Wie es wohl sein wird. Niemand weiss es, jeder wird es aber irgendwann erfahren.

Ich werde aus den Gedanken gerissen, als meine Eltern in mein Zimmer stürmen. Ich sehe schon von weitem wie meiner Mutter Tränen auf den Wangen glänzen.
Ich hasse es andere Menschen weinen zu sehen.
Doch noch mehr hasse ich es selbst zu weinen. Dadurch fühle ich mich schwach und angreifbar, als hätte ich die Kontrolle verloren.

Wenn ich meine Mutter weinen sehe, fühle ich einen stumpfen Schmerz, der nicht zu beschreiben ist. Mehr Schmerz, als wo ich selbst erfahren habe, was bald passieren wird. Mehr Schmerz als jemals zuvor. Auch wenn ich meinen Vater ansehe.
Die Tatsache, die beiden hier alleine zu lassen, kann ich mir nicht vorstellen.

Dass ich bald sterben werde, lässt mich überraschend wenig fühlen. Meine Eltern aber so zu sehen, tut unglaublich weh. Ich muss an meinen Bruder denken, der von alldem noch nichts weiss.

Er ist noch auf Geschäftsreise, kommt Morgen zurück. Aber dann ist es vielleicht schon zu spät. Dann bin ich vielleicht schon weg. Wo auch immer.

Meine Mutter kommt weinend auf mich zu und schliesst mich in ihre Arme. Beruhigend rede ich auf sie ein. „Alles wird gut Mama, ich bin noch hier“, flüstere ich. Auch wenn wir beide wissen, dass es nicht so sein wird.

„Papa, darf ich Noel anrufen, bitte“, frage ich meinen Vater. Erst jetzt wo ich rede, merke ich wie aufgebraucht ich bin. Meine Stimme ist gebrechlich und kratzig. Mein Akku ist leer. Die ganze Chemo hat mich kaputt gemacht. All die Versuche, mir vergeblichst zu helfen. Für was war das alles. Schlussendlich hat es doch nichts gebracht.

Schweigend holt mein Vater sein Handy hervor und tippt darauf herum. Er reicht es mir und beide gehen aus dem Raum.

Ich höre das Klingeln, bis es aufhört und Noels Stimme ertönt. „Eren, wie geht es dir?“ Sein besorgter Blick lässt mich den Mut jetzt schon verlieren. Bis jetzt musste ich es niemandem sagen. Das hat der Arzt gemacht. Und nun muss ich es meinem Bruder sagen, der mich über alles liebt.

Ich will anfangen zu reden, doch meine Stimme stockt. Tränen treten in meine Augen, doch ich blinzle sie schnell weg.

„Noel, mir…mir geht es nicht wirklich gut“, würge ich hervor. „Nein…nein, Eren, sag mir das ist nicht wahr. Nein.“

Meine Hände versagen und das Handy gleitet mir aus den Händen. Ich hebe es wieder auf und sehe Noels entsetztes Gesicht vor mir.
„Es tut mir leid. Komm nach Hause, ja? Versprich mir das“, sage ich und warte ab. Er sagt leise: „Ja, ich verprechs.“ Dann lege ich auf.

Die nächsten Tage vergehen schleppend. Jeder um mich herum ist nervös, ich sitze nur in diesem Bett und Noel ist immer noch nicht da. Mama hat gesagt, dass er keinen Flug erwischt.

Ich habe heute darum gebeten, ob ich kurz raus kann. Die Ärzte haben nur widerwillig ja gesagt. Nun sitze ich alleine an einem nahegelegenen See. Alle 10 Minuten ruft mich jemand an, um sicherzugehen, dass es mir gut geht.
Das haben sie mir zumindest gesagt. Aber ich weiss, dass sie eigentlich meinen, um sicherzugehen, ob ich noch lebe.

Sanfter Wind streicht mir die Haare aus dem Gesicht. Ich schliesse meine Augen und geniesse die frische Luft, nach der ich mich so gesehnt habe. Um mich herum ist es still.

Ob es wohl so sein wird. Still und schwarz. Ich werde es wohl bald herausfinden.

Ich kann meine Ruhe nicht lange geniessen, da jetzt ein Pfleger kommt und mir aufhiflt und mich bereit macht, wieder ins Krankenhaus zu gehen.

Ich seufze und setzte einen Fuss vor den anderen.
Es lässt mich elendig fühlen, dass mir schon so einfache Dinge schwerfallen.
Ich bin so unglaublich müde.

Ja, es wurde mir gesagt, dass ich sterben werde. Aber doch nicht wann. Ich hasse dieses Warten. Nie zu wissen, wann es passiert.

Im Krankenhaus erwartet mich eine Überraschung. Noel ist da. Er nimmt mich sofort in die Arme. „Gott, ich habe dich so vermisst, Eren.“ „Ich dich auch“, murmle ich zurück.

Ich werde wieder ins Bett gelegt und alleine gelassen.
Plötzlich merke ich, wie mir das Atmen immer schwerer fällt. Ich fühle, wie mein Körper immer schwächer und schwerer wird.
Schnell drücke ich den Notfallknopf und meine Familie und Ärzte stürmen herein. Meine Mutter weint schon wieder und alle anderen sehen unglaublich traurig aus.

Mama wird aus dem Zimmer gebracht, um sich zu beruhigen. Papa begleitet sie.

„Hör zu Noel, alles wird gut, ja“, bringe ich mühsam hervor, „wir sehen uns wieder. Irgendwann. Zwischen den Wolken. Ich bin bereit.“

Und dann steht alles still.

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