"Spiegelbild" – Eine Geschichte von Aline Reichert - Young Circle

«Spiegelbild» – Eine Geschichte von Aline Reichert

Member Stories 2024

«Spiegelbild» – Eine Geschichte von Aline Reichert

In einem kleinen, von Angst und Dunkelheit umhüllten Dorf geschehen grausame Morde, und die Dorfbewohner vermuten einen Formwandler als Täter. Als Cordelia, die eine tiefere Verbindung zu diesem Geheimnis hat, die Nacht allein verbringt, wird sie von dem Monster, das in ihrer Nähe lauert, überfallen und muss sich der schockierenden Wahrheit über ihre eigene Identität stellen.

Die Nacht brach über das kleine Dorf inmitten des Waldes herein. Die Lichter in den Häusern erloschen, als die Zeiger der Uhren Richtung Mitternacht rückten. Nebel schwappte vom kleinen See herauf und ab und zu hallte der Schrei einer Eule wider, ansonsten war das kleine Dorf totenstill.

Ein Monster wanderte durch das dunkle Dorf. Mit einem Mantel eng um die Schultern geschlungen, kämpfte es sich durch die kühle Nachtluft. Vom letzten Haus in der kleinen Gasse schimmerte Licht aus den Fenstern und Wärme aus dem Kamin. Klauen ergriffen die Klinke und mit einem lauten Knall lag die Tür am Boden. Die Bewohner des Hauses schrien. Ihre Schreie konnten durchs ganze Dorf gehört werden. Dann war es wieder totenstill.

“Hast du gehört, was gestern Nacht passiert ist?”, flüsterte Cordelia ihrer Freundin, Sienna, zu. Cordelias Flügel flatterten bei jedem Schritt auseinander und wieder zusammen. Das war einer der vielen Gründe, weshalb Sienna sie liebte. Wenn Cordelia starke Emotionen fühlte, begannen ihre Flügel zu flattern.

“Nicht wirklich”, antwortete Sienna. Cordelia blieb stehen und schaute sie mit grossen Augen an. “

Was ist?”, fragte Sienna.

“Du hast die Schreie nicht gehört?” Cordelias eisblaue Augen beobachteten Siennas Reaktion.

“Habe ich nicht. Ich war sehr müde.” Sienna zuckte mit ihren Schultern und lief weiter.

“Die Wilsons wurden in ihrem Haus umgebracht. Niemand weiss, wer es war. Sie vermuten, dass es ein Formwandler war.” Cordelia hatte Sienna eingeholt. “Das ist schrecklich”, murmelte Sienna. “Haben sie schon einen Verdächtigen?” “Mein Vater und sein Team arbeiten daran. Du darfst aber niemandem davon erzählen. Das würde nur noch mehr Panik im Dorf auslösen”, ermahnte Cordelia sie.

“Werde ich nicht. Sind Formwandler nicht seit Jahrzehnten ausgestorben?”, wollte Sienna wissen.

“Das sind sie. Deswegen müssen wir die Situation geheim halten.” Sienna nickte und strich sich eine weisse Haarsträhne hinters Ohr.

“Was sind das für Kratzer an deinem Hals?”, fragte Cordelia.

“Oh, das war meine Katze. Das kleine Biest ist auf einen Baum geklettert und wollte nicht herunterkommen”, erklärte Sienna. “Komm, wir sind spät dran für die Schule.”

Die Dorfbewohner waren bei Sonnenuntergang alle informiert über das Monster, die ihnen in der Nacht auflauerte. Sie wurden von Tag zu Tag ängstlicher. Sobald es eindunkelte, verbarrikadierten sie Türen und Fenster. Nirgends war mehr Licht zu sehen und die Feuer in Öfen wurden gelöscht. Sie versteckten sich voller Angst in ihren dunklen und kalten Häusern. Diese Vorsichtsmassnahmen hielt das Monster aber nicht davon ab, sich jede Nacht neue Opfer zu suchen.

“Meine Eltern wollen übers Wochenende zu meinen Grosseltern gehen”, meinte Sienna am Freitagnachmittag nach der Schule. “Ich glaube, sie haben Angst vor dem Monster.”

“Wer nicht? Das ganze Dorf versinkt in Angst und Panik.” Cordelia schwang ihre Tasche über ihre Schulter. “Pass auf dich auf, wenn ich nicht da bin. Okay?”, ermahnte sie Sienna.

“Natürlich. Ich werde dir schreiben.” Cordelia drückte Sienna einen Kuss auf die Lippen und verschwand mit flatternden Flügeln im Wald.

Cordelia goss die weissen Rosen in ihrem Garten, als die Sonne unterging. Das waren die letzten Blumen, die sie an diesem Abend noch pflegen musste. Sie pflückte ein paar weisse Rosen, denn sie wollte für Sienna einen Blumenstrauss machen. Weisse Rosen waren Siennas Lieblingsblumen.

Cordelia schloss die Tür hinter sich ab und und klemmte ein dickes Brett zwischen den Türgriff und den Rahmen. Ihr Vater würde die ganze Nacht ausser Haus sein, um mit seinem Team das Monster zu finden. Sie war allein mit den Rosen im Haus. Cordelia setzte sich aufs Sofa und begann damit, die Dornen von den Rosen zu entfernen. Eine Rose nach der anderen verlor ihren Schutz.

Sie band ein weisses Band um den Rosenstrauss und brachte ihn in die Küche. Dann füllte sie eine Vase mit Wasser und wollte gerade den Strauss einstellen, als sie schnaufen hörte.

Das Monster stand mit erhobenen Klauen hinter ihr. Cordelia konnte beim Anblick des Monsters nicht schreien. Sie stand unter Schock. Das Monster attackierte sie und warf sie gegen die Wand.

Langsam lief es auf sie zu wie ein Jäger auf seine Beute. Nun stand es ganz nahe vor ihr und durchbohrte sie mit seinem Blick. Sie spürte seinen Atem in ihrem Gesicht, während es ihr mit seinen langen Klauen den Hals aufschlitzte.

Ohne einen Ton sank Cordelia zu Boden, mit den weissen Rosen immer noch in ihren Händen. Cordelias Flügel hingen still von ihrem Rücken hinunter. Das Monster riss ihr den Rosenstrauss aus den Händen. Neugierig fasste es die blutgetränkten Rosen an, senkte den Kopf und roch an ihnen.

“Warum?”, brachte Cordelia unter Tränen heraus. “Warum hast du mich hintergangen?”

Das Monster trat von der sterbenden Cordelia weg und lief zur Haustür. Neben den Jacken hing ein grosser Spiegel. Das Glas spiegelte Sienna. Statt ihrer Hände sah sie grosse, blutüberströmte Klauen. Ihr Blick wanderte zu ihrem Gesicht hoch. Sie fletschte ihre spitzen Zähne und ein Lächeln begann sich zu formen.

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