"Sonnenuntergangsfarbene Tulpen" – Eine Geschichte von Aurelia Panchieri - Young Circle

«Sonnenuntergangsfarbene Tulpen» – Eine Geschichte von Aurelia Panchieri

Member Stories 2024

«Sonnenuntergangsfarbene Tulpen» – Eine Geschichte von Aurelia Panchieri

Während sie in der Stadt auf einen entscheidenden Moment wartet, wird eine junge Frau von Selbstzweifeln geplagt und fragt sich, ob sie wirklich den Mut hat, ihren nächsten Schritt zu wagen. Doch als sie einer hilfsbedürftigen Seniorin begegnet, findet sie nicht nur Ablenkung, sondern vielleicht auch eine unerwartete Verbindung, die ihre Sicht auf die Welt verändern könnte.

Ich starre auf mein Handy, warte darauf, eine Erleuchtung zu erlangen. Nach fünf Minuten immernoch Fehlanzeige. Nach zehn Minuten, nach wie vor: nichts. Es reicht denke ich mir, als ob aufs Handy starren irgendwen zu irgendwas bewegen könnte. Egal wie lange ich auf Pinterest in die Endlosigkeit scrolle, nichts wird mich plötzlich die Weltordnung verstehen lassen. Kopfschüttelnd packe ich das Smartphone in meine neongrüne Minihandtasche und wende meinen Blick nach draussen. Was mache ich hier eigentlich? Mein Blick wandert zur Uhr, nichts passiert in meinem Kopf, als ich die Uhrzeit sehe. Worauf warte ich noch? Eigentlich weiss ich doch ganz genau was ich hier machen will, doch der Mut ist zuhause am Bahnhof einfach stehen geblieben und hat mir schelmisch lächelnd hinterher gewunken. Kriminell, denke ich, dass der mich einfach so alleine fahren lassen hat.      

Am Bahnhof, wo ich mich aktuell befinde, sind massenhaft Menschen unterwegs, ganz anders als zuhause am Bahnhof wo höchstens eine Spitzmaus ihr Näschen aus der Höhle streckt. Wie Klebeband von der Wand lösen sich meine Beine vom orangen Plastikschalenstuhl und ich laufe hinaus, aus dem Warteraum in die grosse Bahnhofshalle. Der Geruch von frischen Bretzeln umwabert meine Nase. Die Hitze von draussen findet ihren Weg in das steinerne Bahnhofsgebäude. Meine kinnlangen, strohähnlichen Haare lassen sich schlecht zusammenbinden, ein kleiner Schweissfilm bildet sich an meinem Nacken. Die Stadt kenne ich mässig gut. Ich weiss noch, wie aufgeregt ich war, als ich das erste Mal alleine mit meiner damaligen besten Freundin hierher kam. Wir haben gar nicht gross etwas gemacht, aber wir waren da, wo alle Coolen aus unserem Jahrgang waren. Mittlerweile sind alle in der Stadt, egal wie cool sie sind. Nur ich nicht. Ich gehe äusserst selten in die Stadt. Mein Platz ist zuhause, am Waldrand, wo ich immernoch bei meinen Eltern wohne, die Blumen auf der Wildwiese sich sacht im Wind wiegen und eine Katze logiert die mich freudig begrüsst, wenn ich, seltenerweise mal, von einem Ausflug zurückkehre. Es ist nicht so, dass ich die Stadt nicht mag, ganz und gar nicht. In der Stadt ist einfach alles so schnell. Für zwei bis drei Tage kann ich mit dieser Geschwindigkeit mithalten, ich finde das toll, wie ein abgefahrener Rausch. Bin ich aber länger als drei Tage in der Stadt entsteht ein komischer Wirbel in meinem Kopf. Meine Gedanken fangen an, sich wie ein Tornado zu drehen und hinterlassen nichts als Chaos. Dieses Durcheinander im Kopf kann ich mir getrost ersparen. Wohin das in meiner Zukunft führen wird, kann ich nicht sagen. Oft stellen mir Menschen diese Frage: «Wie willst du vorankommen, wenn du nie ausfliegst, wenn du nie in die Stadt gehst?». Ich zucke mit den Schultern. In Gedanken frage ich mein Gegenüber: «Warum ist ausfliegen für dich ein Synonym für in die Stadt ziehen?».

Doch heute lasse ich mich nicht aufhalten. Entschieden stiefele ich in meinen pinken Flipflops Richtung Zentrum. Die Brunnen sind gefüllt mit planschenden Kindern und für einen Moment würde ich mich gerne zu ihnen gesellen oder wenigstens die Füsse kurz unter die sich kräuselnde Wasseroberfläche tauchen. Glücklicherweise kommt ein leichter Wind auf.

Ziemlich ausser Atem und völlig überhitzt komme ich an meinem Ziel an: Kassis Wohnung. Jetzt, denke ich, jetzt, Jetzt! JETZT! Ich bewege mich nicht. Es wäre ganz einfach. Tasche auf, Brief irgendwie daraus befreien (ernsthaft, wie hab ich den dort reinbekommen?) und in den Briefkasten mit dem Seehunde-Sticker einwerfen. Trotzdem vergehen zu viele zähe Minuten, ohne, dass etwas passiert. Wie in Trance, mit den Augen den einen Briefkastenschlitz fixierend, stehe ich vor den Briefkästen, überlege fieberhaft hin und her, ob das auch wirklich eine gute Idee ist. Pro macht Kontra hinter meiner Schädelwand eine riesige Szene, Kontra wird wütend und die Vernunft versucht die zwei Parteien verzweifelt auseinanderzuhalten. Unterbrochen werden meine wirren Gedankengänge urplötzlich von einem feinen Tippen auf meine linke Schulter. Langsam drehe ich mich um und erblicke eine weisshaarige Seniorin von der Hälfte meiner Körpergrösse.

«Guten Tag mein Kind. Hätten Sie Zeit, mir mit meinen Einkäufen behilflich zu sein? Der Aufzug ist defekt». Ich nicke. «Klar kann ich Ihnen helfen», antworte ich mit einem Blick auf die zwei Einkaufstaschen die links und rechts neben ihr stehen. Ohne lange zu überlegen, greife ich nach den beiden Taschen und die Frau läuft mit kleinen Schrittchen los. Gefühlt eine halbe Stunde später kommen wir im dritten Stock an. Auf dem Klingelschild lese ich den Namen Sieglinde Sommer. Aus ihrer Wohnung strömt der typische alte-Menschen-Geruch nach Parfum, Putzmittel, Zeitungen und ein wenig abgestandener Luft. In der schmalen piniengrün gestrichenen Küche stelle ich die Einkäufe auf ein Holztischchen neben die frischen sonnenuntergangsrosafarbenen Tulpen. «Bleiben Sie zu einem Tee?», fragt die alte Frau, während sie anfängt mit ihren Einkäufen zu hantieren. Da ich momentan wirklich absolut nichts Besseres zu tun habe und ansonsten wieder eine Ewigkeit vor den Briefkästen herumlungere wie eine Irre, nehme ich die Einladung an.

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