Als das zwölfjährige Mädchen Silva hörte, dass ihre Eltern sich scheiden lassen würden, war sie alles andere als glücklich. Sie sollte in ein kleines Dorf ziehen, das Steintal hieß. Zum Glück blieb bis zum Umzug noch ein ganzer Monat.
Am frühen Morgen kamen sie schließlich in Steintal an. Silva packte gerade die letzten Umzugskartons aus, als es an ihre Zimmertür klopfte. Ihre Mutter steckte den Kopf hinein. „Bist du schon fertig?“, fragte sie. Silva nickte und machte mit der Hand eine Geste.
„Wow, das sieht toll aus! Wie hast du das bloß in der kurzen Zeit geschafft?“, sagte ihre Mutter mit einem Lächeln. Silva fragte, ob sie noch Hilfe brauchte, woraufhin die Mutter nickte und wieder nach unten ging. Silva folgte ihr.
Am Abend war das ganze Haus eingerichtet. Müde und glücklich saßen alle auf dem neuen Sofa. Silvas große Schwester Sarah fragte gerade, ob sie am nächsten Morgen shoppen gehen könne. Ihre Mutter stimmte zu und schickte beide Töchter nach oben. Silva ging in ihr Zimmer und öffnete das Fenster. Bevor sie einschlief, dachte sie: „Es ist eigentlich ganz schön hier in Steintal, so nah am Wald zu wohnen.“
Am nächsten Morgen erzählte Silva beim Frühstück, dass sie einen seltsamen Traum gehabt hatte. „Im Traum waren überall Bäume, und ich konnte das Rauschen der Blätter hören. Es war, als wäre ich mitten in einem tiefen Wald“, sagte sie. Ihre Mutter schaute sie verblüfft an, doch Sarah meinte nur, Silva habe zu viel Fantasie. Dann stand sie auf, räumte das Geschirr in die Maschine, sagte kurz „Tschau“ und verließ das Haus.
Am Nachmittag ging Silva mit ihrer Mutter in den Wald. Schweigend liefen sie ein Stück nebeneinander her, bis ihre Mutter das Schweigen brach. „Silva, ich muss mit dir reden. Dein Vater glaubt nicht an die Waldgeister. Aber ich hatte diese Gabe, und du hast sie geerbt. Du kannst die Waldgeister sehen, hören und ihnen helfen, wenn sie in Gefahr sind.“ Silva hörte fassungslos zu – sie hatte eine Gabe? Nie im Leben hätte sie das gedacht. Ihre Mutter erklärte ihr alles, was sie wusste, und nun erfuhr Silva auch, weshalb sie diesen Namen hatte. „Silva“ bedeutet nämlich „Wald“.
In der nächsten Nacht träumte sie wieder von den Waldgeistern. Nun wusste sie, dass etwas nicht mit ihnen stimmte. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass Waldgeister in Gefahr sind, wenn sie in Träumen auftauchen.
Am nächsten Morgen verließ Silva das Haus direkt nach dem Frühstück und lief in den Wald. Plötzlich raschelte es neben ihr im Gebüsch. Sie bekam es mit der Angst zu tun, als plötzlich ein Geist vor ihr schwebte. Eine Stimme wisperte in ihrem Kopf: „Ich brauche Hilfe, folge mir bitte, Menschenmädchen.“ Silva sah den Geist an – kam die Stimme von ihm? Zögernd folgte sie ihm. Der Geist führte sie auf eine Lichtung. In der Mitte war ein fast unsichtbares Netz gespannt, in dem ein Geist gefangen war. Silva ging zu ihm und löste ihn vom Netz.
„Vielen Dank“, sagte der Geist und lächelte, bevor er verschwand.
Silva rannte nach Hause. Ihre Mutter erwartete sie bereits, und Silva erzählte ihr alles, was sie im Wald erlebt hatte.
Als es Abend wurde, kam ihre Mutter in ihr Zimmer. „Gesucht und gefunden“, sagte sie stolz und reichte Silva ein Buch. Silva las den Titel: „WALDGEISTER“. „Ich habe dieses Buch immer sehr gemocht“, schwärmte ihre Mutter, bevor sie das Zimmer verließ.
Schon im Morgengrauen spazierte Silva wieder im Wald umher. Da sah sie, wie ein Auto über Wurzeln und kleine Steine fuhr. Schnell versteckte sie sich hinter einem Baum. Ein Mann stieg aus dem Auto und holte ein Netz aus dem Kofferraum. Er spannte es zwischen zwei Bäume, als plötzlich sein Handy klingelte. Er nahm es ab und sagte: „Jim, morgen Nacht, hier im Steintaler Wald um 24 Uhr. Dann haben wir sicher einen dieser verfluchten Waldgeister im Netz.“ Er machte eine Pause und schaute in Silvas Richtung. Ihr Herz klopfte wie wild, aber dann wandte er seinen Blick wieder dem Handy zu. „Okay“, sagte eine Stimme, die anscheinend Jim gehörte. Der Mann legte auf und fuhr davon.
Silva zitterte am ganzen Körper. Jemand wollte die Waldgeister fangen, und sie musste das unbedingt verhindern. Die Waldgeister konnten auf sie zählen.
Der Wecker klingelte, und Silva wurde aus dem Schlaf gerissen. Müde reckte sie sich und schaute auf die Uhr – es war 23 Uhr. Da fiel ihr wieder ein, weshalb der Wecker gestellt war. Sofort sprang sie auf und schlich sich aus dem Haus. Im Wald angekommen, befreite sie so schnell wie möglich die Waldgeister, die gefangen waren.
Silva schaute auf ihre Uhr und stellte fest, dass sie noch eine halbe Stunde Zeit hatte. Da kam ihr eine Idee. Rasch lief sie zu dem Waldgeist, der sie am Anfang um Hilfe gebeten hatte, und erzählte ihm ihren Plan. Zusammen legten sie los.
Silva sah die Scheinwerfer des Autos zwischen den Bäumen aufleuchten. Sie hob ihre Hand, das war das Zeichen für die Waldgeister, sich zu verstecken. Kurz darauf hörte sie, wie zwei Türen zuschlugen.
„Jim“, rief der Mann, „beeil dich, da vorne müsste es sein.“ Die beiden Männer traten auf die Lichtung und schauten sich suchend um, doch das Netz konnten sie nicht entdecken. Silva hatte mit den Waldgeistern das Netz so aufgehängt, dass es nur von der Seite zu sehen war. Die beiden Männer liefen in die Mitte der Lichtung, und plötzlich spannte sich das Netz. Sie waren in die Falle getappt. Das Netz zog sich enger um sie, und sie gaben schließlich auf. Silva trat auf die Lichtung, gefolgt von den Waldgeistern. Sie sprach mit den Männern, und am Ende schworen sie, nie wieder in die Nähe der Geister zu kommen. Silva schnitt das Netz auf, und die Männer rannten aus dem Wald.
Silva schaute die Waldgeister an und dachte: Mit ihnen würde ihr sicher nie langweilig werden.
ENDE
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