"Schachmatt" – eine Geschichte von Samira Fischer - Young Circle

«Schachmatt» – eine Geschichte von Samira Fischer

Member Stories 2022

«Schachmatt» – eine Geschichte von Samira Fischer

Laute Schritte kommen genau in unsere Richtung. Es ertönen weitere Schritte und wir können den Schützen wieder flüstern hören: «Das ist sie. Blonde Haare, braune Augen, zwei Männer sollten bei ihr sein. Anscheinend die Pflegeeltern, die sie heute adoptieren wollen. Steht alles in der Akte. Sucht sie.»

Eine prachtvolle Halle, ein glänzender Marmorboden, mit Aussehen eines Schachbretts. Türen, überall Türen, überall Menschen, die mit ihren Akten rascheln. Dieses Rascheln wächst in meinen Ohren zu einem Rauschen. Der Geruch von Papier und Tinte erfüllt die Halle des Gerichts. Sie laufen herum, sie diskutieren und der Saal füllt sich mit den unterschiedlichsten Stimmen.

Bis vor ein paar Minuten hat diese Beschreibung ziemlich genau gepasst. Unser Pflegekind in ihrem makellosen, wundervollen Kleid, mein Mann und ich in unserem schönsten Anzug. Jahrelang warten wir auf diesen einen Moment. Diesen magischen, glücklichen, bedeutenden Moment. Seit wir Sarah vor 6 Jahren aus dem Heim geholt haben, haben wir von diesem Tag geträumt. Es hat sofort gepasst. Doch jetzt ist alles ganz anders.

Ich starre auf den glänzenden Marmorboden, der mir immer wieder ein typisches Schachbrett mit all diesen Figuren in den Kopf ruft. Dieser verdammte Boden. Ich kann mein Spiegelbild sehen. Es starrt zurück wie ein Roboter. Gelähmt vor Furcht, Hilflosigkeit, Zorn und Verzweiflung.

Vorsichtig drehe ich meinen Kopf nach links. Nicht zu schnell, nicht zu auffällig, nicht zu weit nach links. Aus dem Augenwinkel sehe ich die zitternde Sarah. Wie immer hält sie ihr Buch, als wäre es ihr Anker. Auch sie hat das Gesicht brav nach unten gerichtet. Um sie und mich selbst zu beruhigen, lege ich vorsichtig, ganz langsam, ganz unauffällig meinen linken Arm um ihre Schultern. Einen kurzen Moment später bemerke ich, wie sich eine starke, vertraute Hand auf meine legt. Nick, mein Mann, meine Stütze, meine Schulter zum Anlehnen. Er hat, wie immer, sofort auf meine Körpersprache reagiert.

Und so liegen wir eine gefühlte Ewigkeit hier, versuchen unsere Panik zu unterdrücken, schlucken den Kloss in unserem Hals hinunter, halten die brennenden Tränen in den Augen zurück und lauschen in die Stille, hören die schweren Atemzüge der anderen, etwa 50 Besucher, bis es auf einmal hinter der Tür, durch die wir hätten gehen sollen, einen weiteren lauten Knall gibt, und jemand herumschreit, flucht, weint und durchdreht.

«Das ist meine Tochter, Vater! Oder soll ich lieber sagen ‘Euer Ehren’? Niemand hat das Recht, sie mir wegzunehmen!» Wir alle hören die gedämpfte Stimme. Eine weitere Stimme, vermutlich die des Richters, versucht die Situation unter Kontrolle zu bringen. Ohne Erfolg. «Die Türen sind verriegelt, die Polizisten sind tot. In der Halle sind meine Freunde und warten auf mein Zeichen. Wenn du nicht willst, dass noch jemand stirbt, dann hast du jetzt die Chance, mir ein Foto von ihr zu zeigen. Ich werde meine Tochter finden. Ich werde sie mitnehmen.» «Sohn, du machst es wieder nur für Geld. Ich kenne deine Masche. Du hast dieses Kind seit ihrem ersten Lebensjahr nicht mehr gesehen. Du bist abgehauen, hast unterschrieben, dass du nichts mehr mit ihr zu tun haben willst. Bitte, lass mich dir helfen. Du kannst aus dieser Nummer nicht mehr herauskommen. Bitte, hör auf», fleht der Richter. Es gibt einen weiteren Schuss und das Flehen verstummt.

Nicht einmal fünf Minuten später schlagen die Flügeltüren auf. Laute Schritte kommen genau in unsere Richtung. Es ertönen weitere Schritte und wir können den Schützen wieder flüstern hören: «Das ist sie. Blonde Haare, braune Augen, zwei Männer sollten bei ihr sein. Anscheinend die Pflegeeltern, die sie heute adoptieren wollen. Steht alles in der Akte. Sucht sie.»

Noch bevor der Mann seinen Befehl ausgesprochen hat, ist mein ganzes Leben wie im Film vor meinem inneren Auge vorbeigezogen. Nicks Hand umklammert die meine so fest, dass es fast schon weh tut. Es ist eine Botschaft, eine Erinnerung an das Versprechen, das wir Sarah und uns selbst gegeben haben. Wir werden sie beschützen, nicht zulassen, dass ihr oder uns selbst etwas passiert. Wir sind ihre Familie und sie ist unsere.

Schwere Schritte kommen näher. Bleiben genau vor uns stehen. Ich schaue auf und kann ihn sehen. Ein Mann, schätzungsweise 1.80 Meter gross, mit kastanienbraunen Augen. Er schaut mir in die Augen. Sein Blick ist kalt, und doch kann ich eine Ähnlichkeit mit Sarahs Augen erkennen. Dann zuckt mein Blick zu seiner Hand, die den rauen Griff einer Glock 17 umschlossen hat.

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