«Los, beeil dich Daria, sonst kommen wir noch zu spät in die Schule», schreit mein Bruder vom Eingang hoch. «Ja ja, ich komm ja schon», schreie ich zurück, werfe mir meinen alten Schulsack über die Schultern und renne die Treppen von unserem Wohnblock herunter. Iwan, mein Bruder steht lässig an der abgebröckelten Wand und sobald ich bei ihm bin, fängt er an in schnellen Schritten zur Strasse hochzulaufen. «Iwan», frage ich ihn, «Wie lange hast du denn heute Schule, ich will nicht schon wieder allein heimlaufen!», jammere Ich. Der sieht kurz zu mir und seufzt, «komm schon Daria, am Freitag können wir wieder zusammenlaufen, aber heute muss ich noch länger in der Schule bleiben». Seit Russland uns im Februar den Krieg erklärt hat, habe ich jeden Tag Angst, dass Soldaten von Russland einmarschieren. Unser Vater musste im März, zusammen mit hunderttausenden anderen Männern von Luhansk in den Krieg ziehen und unsere Mutter ist Krankenschwester und hat seit dem Krieg, alle Hände voll zu tun. «Ach bitte Iwan, kann ich denn wennschon auch länger in der Schule bleiben», weiss aber schon, wie die Antwort ausfallen wird. « Nein, du weisst doch, dass wir nach der Schule gleich nach Hause gehen müssen und Mutter ist dann ja auch da!», sagt er in einem strengen Unterton. Auf dem restlichen Weg in die Schule laufen wir schweigend nebeneinander und erst als wir den Pausenhof erreichen, flüstert er mir noch zu: «Бережіть себе», Was so viel bedeutet wie, «Pass auf dich auf». Dann geht er zu seinen Freunden und ich schaue mich nach meiner besten Freundin Marija um.
«Boah, der Unterricht heute war ja so was von langweilig.», meint Marija zu mir, während wir zu unseren Spinden laufen. Die 7 Stunden Schule fand ich zwar gar nicht ganz so unspannend, schweige aber lieber, da ich sonst wieder einen Streit anzettle. «Ja, total», sage ich stattdessen und räume meine Bücher in den Spind. Als wir vor dem Schultor stehen, umarmen wir uns flüchtig und versprechen, nach den Hausaufgaben zu telefonieren. Während sie mit ihrem Fahrrad davonfährt, spiele ich einen Moment mit dem Gedanken, trotzdem auf meinen Bruder zu warten, schiebe diesen aber gleich wieder weg. Iwan wäre sicher stinksauer und ausserdem wartet meine Mutter zu Hause auf mich. Also mache ich mich auf dem Weg nach Hause. Zu Hause angekommen wartet meine Mutter schon auf mich. Wir essen zusammen etwas Kleines und ich setze mich gleich an die Hausaufgaben. Nach gefühlten 3 Stunden (eigentlich nur 10 Minuten), gönne ich mir eine kleine Pause, als ich einen lauten Knall höre. Der Wohnblock wackelt und ich werde zu Boden gerissen. Sofort kommt meine Mutter in mein kleines Zimmer und fragt mit Panik in der Stimme: «Hast du das auch gehört?», aber meine ängstliche Mine, ist ihr Antwort genug. «Was war das?», höre Ich mich fragen, weiss aber, dass sie es auch nicht weiss. Wir beide rennen zum schmutzigen Fenster, und was ich sehe, lässt mein Bult gefrieren. Dort wo die Schule stehen sollte, liegen nur noch Mauersteine und zertrümmerte Möbel. Über den Trümmern türmt sich eine dicke Rauchwolke auf, die darauf hinweist, was da passiert ist. Ich bin wie erstarrt und kann mich nicht bewegen. Ich schaue auf die Trümmer des Schulhauses, dann zu meiner Mutter und denke «Iwan». Meine Mutter hat wohl dem gleichen Gedanken, den sie rennt, los, Ich ihr dicht auf ihren Fersen. So schnell wie noch nie rennen wir die Treppe herunter, zur Hauptstrasse und von da an zum Schulhaus, oder bessergesagt, zu dem was davon noch übrig ist. Als wir ankommen, sehen wir, dass sich eine kleine Menschenmenge angesammelt hat. Sie haben alle Panik in den Augen und viele Frauen schreien verzweifelt irgendeinen Namen, und suchen währenddessen den Trümmern ab, oder Weinen am Rande. Meine Mutter stürzen und auf den Berg Trümmern, und ich fange an zu weinen. Das kann doch nicht sein. Er kann nicht unter diesem Schutthaufen vergraben sein, er darf nicht. Verzweifelt schreie Ich auf und suche die Trümmer nach ihm ab. Nur mit einem Gedanken im Kopf. «IWAN IWAN IWAN!», schreie ich immer wieder und räume so hektisch die Steine weg, dass mir meine Hände wehtun. Mir laufen Tränen übers Gesicht. Ich bekomme Panik. Wieder schreie ich seinen Namen, wieder und wieder, bis meine Stimme versagt. Dann, plötzlich schreit meine Mutter auf. Ich hebe reflexartig den Kopf und sehe, wie sie etwas im Schoss hält. Ich gehe langsam, über den Trümmern auf meine Mutter zu, und als ich sehe, was Sie in ihren Händen hält, falle ich auf die Knie. Es ist Iwan. Sein Gesicht ist so blass und leblos. Seine Augen sind weit aufgerissen, und sein Körper hängt regungslos herab. Ich will aufstehen, zu meiner Mutter laufen, zu Iwan, doch Ich bin wie erstarrt. Dann wird alles Schwarz.
«Am Donnerstag, der 2. Juni starben 150 Lehrer und Schüler bei einem Luftangriff auf eine Schule in Luhansk. 24 Personen wurden schwer verletzt und», ich schalte den Fernseher aus. Drei Tage sind seit dem Angriff vergangen. Drei Tage, in denen ich nur dasass und ins nichts gestarrt habe. Drei Tage seit mein Bruder nicht mehr hier ist. Ich bewege mich nur, um auf WC zu gehen oder um etwas zu essen, genau wie meine Mutter. Ich kann nicht mehr richtig denken. Ich will es auch nicht. Der Schmerz sitzt so tief, dass ich das Gefühl habe jeden Moment darin zu versinken. Doch irgendwann muss ich wieder nach vorne schauen. Irgendwann muss ich wieder Hoffnung schöpfen. Irgendwann…
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