Sie trafen sich nur im Herbst. Im Winter war er Sohn, im Frühling war er beliebt und im Sommer Athlet. Doch sobald die Blätter der Laubbäume sich rot verfärbten und fielen, sobald sie sich am Morgen Wollpullover überwerfen musste, wenn sie den Campus überquerte, sobald in der Cafeteria heisse Schokolade und Zimtkekse angeboten wurden, erschien er abends wieder in der alten Bibliothek.
«Darf ich?», fragte er jeweils, mit einer Unsicherheit in der Stimme, die nur sie jemals darin gehört hatte, und nur sie wusste, dass er nicht den Stuhl gegenüber von ihr meinte.
«In Ordnung», erwiderte sie, als würde sie ihm damit einen Gefallen tun. Doch in Wirklichkeit genoss sie ihre Treffen in der Bibliothek viel mehr, als sie jemals zugeben und er jemals wissen würde. Er veränderte die Art, wie sie sich selbst sah, gab ihr Wert, so erbärmlich das auch klang.
Über den Rand ihres Buches beobachtete sie ihn dabei, wie er sein Skizzenbuch und die Kohlestifte aus seiner Ledertasche zog und vor sich auf den Tisch legte. «Wo?», fragte sie leise, während sie so tat, als sei sie immer noch in ihr Buch vertieft. Dabei wusste sie ganz genau, woran er dachte.
«Auf dem Fenstersitz, bitte.»
Natürlich der Fenstersitz. Heute Nacht war der Himmel von tausend leuchtenden Sternen übersäht.
Er kam langsam auf sie zu, nachdem sie sich an den gewünschten Platz gesetzt hatte, und öffnete behutsam die drei Knöpfe ihrer Strickjacke. «Besser.» «Sonst noch etwas?» «Dein Haar. Öffne es.»
Sie gehorchte schweigend, doch er schüttelte leicht den Kopf. «Nein, nicht so. So verdeckt es deine Augen. Ich will deine Augen sehen.» Er trat vor und strich ihr Haar auf eine Seite. Ein schmales Lächeln erschien auf seinen Lippen, als er sie betrachtete. «Wunderschön.»
Mehr veränderte er nicht an ihr. Er setzte sich an den Tisch, warf einen prüfenden Blick auf sie und begann mit der Skizze. Denn im Herbst war er Künstler.
Bis jetzt verstand sie nicht, weshalb er ausgerechnet sie als Modell ausgesucht hatte, aber sie traute sich nicht, ihn zu fragen. Manchmal erwischte sie sich dabei, wie sie sich mit Rose auf der Titanic verglich, wenn sie ein weiteres Mal Objekt seiner Kunst wurde. Nur war sie weder nackt noch im Besitz einer skandalös wertvollen Halskette. Nur liebte er sie nicht.
«Was ist Aristoteles’ Definition von Glück?», fragte sie ihn, um sich von ihren Gedanken abzulenken. Dieses Spiel hatten sie im Laufe der Zeit entwickelt. Sie las und stellte ihm Fragen zum Inhalt ihrer Bücher, damit er ihren nachdenklichen Gesichtsausdruck einfangen konnte. Er wolle nicht nur Schönheit zu Papier bringen, sondern auch Intelligenz, hatte er ihr in den Anfängen erklärt. Und sie war errötet, hatte aber nichts erwidert. Vermutlich wusste er bis heute nicht, was ihr diese Worte bedeutet hatten.
Nun schaute er sie lange an, schaute in sie hinein, als habe er vor, ihre Seele zu sezieren, während sie sich in kleinste Teilchen auflöste. «Ich weiss nicht.»
«Das höchste Ziel und Gut, welches durch Tugend und Vernunft erreicht wird», flüsterte sie. Der Sinn dieser Worte verschwamm vor ihrem inneren Auge, doch sie klammerte sich mit aller Kraft daran fest. In gewissen Situationen sollte Vernunft über Herz siegen. Aristoteles würde ihr zustimmen.
«Mhh.» Er nickte bedächtig, ergänzte einige Striche auf seiner Skizze und warf ihr schliesslich einen weiteren, stechenden Blick zu. «Und was ist deine Definition von Glück?»
Sie kam ins Stottern. Sie wusste keine Antwort darauf, zumindest keine Antwort, die ihm gefallen würde. Denn so ungerne sie es auch zugab, sie wollte, dass die Antwort ihm gefiel. Sie wollte, dass sie ihm gefiel.
Doch wie sollte sie einem extrovertierten, sportbesessenen Partygänger erklären, dass ihre Definition von Glück verstaubte Bücher, Caramel Lattes an einem regnerischen Tag, ihre Sad-Girl-Autumn-Playlist bei einem Waldspaziergang und der Blick auf die Lichter der Stadt um Mitternacht war? Sie wollte nicht, dass er ging, noch nicht, dafür kam dieser Moment viel zu nahe an ihre Glücksdefinition heran. Doch er würde gehen, sollte er jemals herausfinden, wie weit ihre Welten tatsächlich voneinander entfernt waren. Wie wenig sie in seine passte, und umgekehrt. Denn selbst die Liebe folgte gewissen Regeln, übertrat gewisse Grenzen nicht. Drei Herbstmonate waren nicht genug Gemeinsamkeit.
«Ich weiss es nicht», sagte sie deshalb mit einem Schulterzucken. «Etwas, dass so gross ist wie Glück, lässt sich meiner Meinung nach kaum in eine starre Form aus wenigen Worten drücken.»
Darauf lächelte er nur. «Schau aus dem Fenster, Hypatia.»
Eine ganze Weile sagte keiner von ihnen etwas, doch die Stille in der Bibliothek war nicht unangenehm, sondern natürlich. Hier hielt man seine eigenen Worte nicht für bedeutungsvoller als diejenigen der grossen Schriftsteller.
Sie hörte seinen Kohlestift über das Papier fahren, in sanften, aber bestimmten Bewegungen, und konnte der Versuchung nicht widerstehen, einen Blick auf ihn zu werfen. In solchen Momenten, wenn er still lächelnd in seine Zeichnung vertieft war, glaubte sie fast, er sei wirklich glücklich darüber, hier zu sein. Dann musste sie sich jeweils daran erinnern, dass sein wahres, spannendes Leben in den anderen Jahreszeiten stattfand. Im Herbst brauchte er bloss eine Ablenkung.
Die Morgendämmerung war bereits hereingebrochen, als seine Zeichnung fertig wurde. Wie immer blieb sie sitzen, während er seine Malsachen zusammensammelte, eine Hand zum Gruss hob und sich zum Gehen anwandte.
«Warte», rief sie, bevor er die Tür in dieser Nacht hinter sich schliessen konnte. Langsam drehte er sich zu ihr um. «Ja?»
Sie stiess sich vom Fenstersitz ab und ging wenige Schritte auf ihn zu, ihr Buch fest gegen die Brust gedrückt. «Was ist deine Definition von Glück?»
Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem leisen Lächeln. Er öffnete sein Skizzenbuch und riss eine Seite heraus, die er zwischen die Seiten ihres Buches klemmte. «Herbst», sagte er leise. «Herbst ist meine Definition von Glück.»
Als er gegangen war, zog sie das Blatt aus ihrem Buch hervor. Darauf prangte die Kohlestiftskizze, die er heute angefertigt hatte; von ihr, in ihrer alten Strickjacke und mit dem Philosophiebuch in den Händen. Darunter stand in geschwungener Schrift: Nur im Herbst.
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