"Nur Eine Von Acht Milliarden" – eine Geschichte von Elena Knecht - Young Circle

«Nur Eine Von Acht Milliarden» – eine Geschichte von Elena Knecht

Member Stories 2023

«Nur Eine Von Acht Milliarden» – eine Geschichte von Elena Knecht

Eine junge Frau betritt den Zug, umgeben von einem Meer fremder Gesichter und Gedanken. Als der Zug in Bewegung kommt, träumt sie kurz von einer ungewissen Reise ohne Ziel, doch stattdessen bleibt sie die einsame Unbekannte in der Masse der acht Milliarden Menschen – bis vielleicht eines Tages das Schicksal sie überrascht.

Unter ihren Füssen vibriert der Boden. Durch die Lautsprecher wird der anrollende Zug angekündigt. Eine Vielzahl von Menschen strömt allein oder in Gruppen durcheinander, abschätzend, wo wohl die Türen schliesslich zum Stillstand kommen werden. Koffer klappern über die Sicherheitslinien am Boden, Kinder werden bei der Hand genommen, Rücksäcke zurechtgerückt. Das Kreischen der Bremsen wird immer lauter, bricht unerwartet rasch ab, die Türen öffnen sich. Darauf bedacht, sich auf keinen Fall vorzudrängen oder mit ihrem Rucksack gegen die Person hinter ihr zu stossen, lässt sie sich mit der Menge in den Zug schieben. Zischend schliessen sich die Türen. Auf der Suche nach einem Sitzplatz geht sie den Gang entlang, während sie die Blicke der Menschen zu ihrer Rechten und Linken auf sich zu spüren glaubt. Sie versucht sich zu überzeugen, dass sie sich die Blicke nur einbildet. Oder dass die Blicke sie nicht zu kümmern brauchen, wenn sie denn da sind. Oder dass es nur flüchtige, nichtsbedeutende Blicke sind, wie sie einem zugeworfen werden, wenn man ein Zugabteil betritt.

Noch mit ihren Gedanken beschäftigt findet sie ein leeres Zweierabteil auf der linken Seite. Sie setzt sich ans Fenster, legt ihren Rucksack neben sich. Wenn es zu voll im Abteil wird, wird sie ihn zu sich nehmen und den Platz freigeben, verspricht sie sich. Sie streicht ihre Kleidung glatt und öffnet den Reissverschluss ihrer Jacke, der ihr unangenehm an den Hals drückt, ein Stück.

Als der Zug langsam ins Rollen kommt, versucht sie kurz, sich vorzustellen, dass nicht sie aus dem Bahnhof fährt, sondern dass der Bahnhof ins Rollen gekommen ist. Die Illusion hält sich nur einen winzigen Moment in ihrem Kopf, dann nimmt der Verstand überhand und sie stellt leicht ernüchtert fest, dass sie kaum mehr in ihren Tagträumen versinken kann. Sie greift in ihrer Manteltasche nach ihrem Smartphone, überlegt sich kurz, was sie überhaupt damit will, kommt zum Schluss, lieber aus dem Fenster zu sehen oder sich vielleicht auch nicht mit möglichen neuen Nachrichten beschäftigen zu wollen und steckt das Smartphone zurück in ihre Tasche. Sie überlegt sich, nicht wie immer an der übernächsten Haltestelle auszusteigen, sondern im Zug sitzen zu bleiben und irgendwo in einen neuen Zug zu steigen, ganz ohne auf die Ortsschilder oder die Uhrzeit zu achten und ohne ein Ziel zu haben.

Sie spürt den Druck der Rückenlehne an ihren Schultern, als der Zug bei seinem nächsten Halt langsamer wird. Vor dem Fenster sieht sie Menschen ein- und aussteigen. Sie gehen in verschiedene Richtungen davon; ein elegant gekleideter Mann im Eilschritt, eine ältere, leicht vornübergebeugte Dame in langsamen, kleinen Schritten, ein junger Mann im Takt zur Musik, die nur er durch seine Kopfhörer hören kann. Sie alle versinken in dem anonymen Meer von fremden Menschen, über die und deren aus tausenden, unbekannten Facetten bestehende Leben die junge Frau im Zug manchmal nachdenkt. Der Zug rollt wieder an. Ihr Körper schwankt leicht mit dem Rhythmus der Gleise mit, als der Zug eine Kurve fährt. In dem kurzen Tunnel nach der Kurve betrachtet sie ihr Spiegelbild, welches im Fenster vor der dunklen Tunnelwand nun gut zu erkennen ist. Während sie in das so vertraute und doch irgendwie fremde Augenpaar starrt und sich überlegt, was jemand anderes darin wohl sehen könnte oder auch übersehen könnte, ertönt der Signalton, der die Einfahrt in den nächsten Bahnhof ankündigt. Obwohl sie wieder das Bedürfnis verspürt, im Zug sitzen zu bleiben und ziellos, vielleicht auf der Suche nach einem Ziel, weiterzufahren, steht sie auf, nimmt ihren Rucksack und geht den Gang entlang, wobei sie wieder die vielleicht nur beiläufigen Blicke der Menschen links und rechts auf sich zu spüren glaubt. Möglichst ohne das Gleichgewicht im stark bremsenden Zug zu verlieren, wartet sie, den Blick auf eine unbestimmbare Leere vor sich gerichtet, an der Tür, bis diese, nachdem ein leichter Halteruck durch den Zug gegangen ist, schliesslich aufgleitet. Sie steigt über den schmalen Spalt zwischen Zug und Bahnsteig. Wenn ihr Leben eine Erzählung wäre, denkt sie sich, wäre jetzt das Kapitel, in dem sie durch Zufall ihre zukünftige beste Freundin kennenlernt oder durch eine Verwechslung den Jungen, der ihr das Gefühl geben wird, etwas Besonderes zu sein, trifft. Doch sie schlägt, ohne dass etwas geschieht, den Weg ein, den sie jeden Tag um diese Uhrzeit nimmt, und versinkt im Meer aller anderen Menschen auf dem Bahnsteig. Sie bleibt die einsame, unbekannte junge Frau. Sie bleibt nur eine von acht Milliarden.

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