"Nie wieder" – eine Geschichte von Nadja Ehinger - Young Circle

«Nie wieder» – eine Geschichte von Nadja Ehinger

Member Stories 2022

«Nie wieder» – eine Geschichte von Nadja Ehinger

Wäre die Situation weniger ernst gewesen, hätte ich mich neugierig umgeschaut, doch mit der Gewissheit, dass es Hannah nicht gut ging, konnte es mir kaum schnell genug gehen…

Ich traf sie auf einer Seite im Internet. Sie kam aus Deutschland, war im selben Alter wie ich und hiess Hannah. Nachdem wir unsere E-Mail-Adressen ausgetauscht hatten, schrieben wir uns beinahe jeden Tag lange Mails. Wir redeten über alles.
Wie immer freute ich mich erst, als eine neue Mail von ihr eintraf, was jedoch schnell in Schrecken umschlug, sobald ich die ersten Zeilen gelesen hatte:

Hi Nadja
Es ist etwas Schreckliches passiert: Meine Eltern haben von dir erfahren und mir verboten, weiter mit dir zu schreiben. Ich konnte sie noch davon überzeugen, dir diese letzte Mail schicken zu dürfen, aber danach werde ich nie wieder antworten können. Es ist schrecklich, aber es geht nicht anders :*****(
Ich wünsche dir ein wunderschönes Leben! <3
Hab dich lieb – Hannah <3
PS: Ich werde dich nie vergessen <3

Fassungslos starrte ich auf den Bildschirm. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie konnte doch nicht einfach so aus meinem Leben verschwinden! Ich brauchte sie!
An diesem Abend wälzte ich mich im Bett herum und konnte nicht einschlafen. Ständig musste ich an Hannah denken. Ich kam erst zur Ruhe, nachdem ich einen Entschluss gefasst hatte: Am Wochenende würde ich nach Deutschland fahren und nach ihr suchen. Sie hatte mir ihren Wohnort einmal geschrieben und gesagt, es würden nicht viele Leute dort leben.
Am Samstag klingelte mein Wecker um sechs Uhr. Normalerweise kam ich um diese Zeit schlecht aus dem Bett, aber das war heute anders. Auch mein Körper spürte, wie wichtig das hier für mich war. Meine Mutter weckte ich nicht auf, aber sie wusste natürlich von meinem Plan. Ich packte etwas Picknick ein und machte mich mit Zug und Bus nach Deutschland auf. Schon am Mittag kam ich in dem kleinen, verschlafenen Dörfchen an. Ich klingelte an der erstbesten Haustür. Eine ältere Dame öffnete mir und antwortete freundlich, dass bei ihr keine Hannah wohne. Die nächste Tür öffnete ein Mädchen in meinem Alter. Ich erkundigte mich wieder nach Hannah und sie fragte misstrauisch, was ich von dieser wolle. Ich antwortete schlicht: «Ich muss sie sehen.» Das Mädchen murmelte: «Na dann viel Glück!», erklärte sich aber dazu bereit, mir das Haus zu zeigen, in dem Hannah wohnte.
Am Ziel angelangt, verabschiedete sich das Mädchen und ich drückte auf den Klingelknopf. Die Tür wurde geöffnet und ein müde aussehender Mann in den Vierzigern schaute mich erstaunt an. Ich erkundigte mich nach Hannah. Ein Schatten huschte über sein Gesicht und plötzlich sah er viel älter aus. Halb besorgt, halb wütend erklärte er mir, Hannah sei momentan nicht zu sprechen. Und wer ich denn überhaupt sei? Ich nannte meinen Namen. Erstaunt riss er die Augen auf. «Doch nicht etwa die «Nadja» aus der Schweiz, mit der Hannah so lange geschrieben hatte? Damit musst du mir gar nicht kommen! Das war kein Mädchen, sondern ein böser, alter Mann, der meiner Tochter etwas vorspielte! Und jetzt macht sie so ein Drama darum, dabei haben wir sie nur davor bewahrt, irgendwann in den Fängen dieses Ekels zu landen!» Als er mit seiner Tirade fertig war, schüttelte ich vehement den Kopf: «Das ist nicht wahr! Ich bin Nadja und habe mit ihr geschrieben, und wie Sie wohl sehen, bin ich kein böser, alter Mann! Aber was meinten Sie damit, dass sie so ein Drama darum mache?» Ziemlich besorgt erklärte er mir, Hannah esse kaum noch etwas, nur das, was sie zum Überleben brauche. Wenn sie so weitermache, sei das nicht mehr gesund! Geschockt, aber bestimmt sagte ich, ich wolle Hannah sehen. Die Ablehnung lag dem Mann schon auf der Zunge, als ihn irgendetwas in meinem Blick stutzig machte. Langsam schloss er den Mund, um ihn dann wieder zu öffnen: «Ich bringe dich zu ihr.» Erleichtert folgte ich ihm ins Haus. Wäre die Situation weniger ernst gewesen, hätte ich mich neugierig umgeschaut, doch mit der Gewissheit, dass es Hannah nicht gut ging, konnte es mir kaum schnell genug gehen. Hätte ich gewusst, wo Hannahs Zimmer war, wäre ich gerannt, doch so musste ich mich dem Tempo ihres Vaters anpassen. Endlich, nach einer schmalen Treppe und einem kurzen Korridor, standen wir vor ihrer Tür. Mit einem leicht spöttischen, aber auch erwartungsvollen Blick entfernte er sich. Ich merkte, dass er auf der Treppe stehen geblieben war und mich beobachtete, aber das kümmerte mich nicht. Leicht klopfte ich an die Tür. Nichts. Zaghaft rief ich nach Hannah. Diese fragte, eindeutig erstaunt, aber auch ein wenig misstrauisch: «Wer ist da?» «Ich bin es, Nadja! Darf ich reinkommen?» Kurz war ich unsicher, ob sie meine Stimme erkennen würde, da wurde die Tür zwischen uns schon aufgerissen und sie stand mir gegenüber, mit vor Ungläubigkeit grossen Augen und leicht geöffnetem Mund: Hannah. Einen Moment, der sich gefühlt endlos in die Länge zog, geschah nichts; wir blickten einander bloss an. Doch dann platzte der Knoten und Hannahs Unglaube schlug in pure Freude und Erleichterung um. Sie umarmte mich stürmisch und ich legte glücklich meine Arme um sie. «Du bist gekommen!», hauchte sie und zu meinem Entsetzen begann sie, leise zu weinen. Mit Hintergedanken an ihren Vater, der alles mitbekommen haben musste, zog ich sie in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter uns. Leicht strich ich ihr übers Haar: «Alles wird gut, ich kann jetzt schliesslich beweisen, dass ich kein böser, alter Mann bin. Bitte versprich mir, nie wieder zu hungern!» Langsam versiegten Hannahs Tränen und sie nickte. Wir setzten uns auf ihr Bett und begannen, zu reden.
Als ich um acht Uhr das Haus verliess, um noch die letzte Verbindung in die Schweiz zu erwischen, hatte ich das Gefühl, Hannah schon mein ganzes Leben zu kennen. Ich hatte schon davor viel über sie gewusst, doch nach diesem gemeinsamen Nachmittag war unsere Verbindung um ein Vielfaches tiefer geworden. Ich hatte sogar bei ihr essen dürfen. Nach diesem Abendessen waren schliesslich auch ihre Eltern überzeugt. Wir hatten schon Hannahs Aufenthalt in der Schweiz für nächstes Wochenende geplant, doch etwas würde immer noch gleich sein: Wir würden weiterhin täglich lange Mails hin und her schreiben. Niemand konnte uns auseinanderbringen.

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