"Nichts" - Eine Geschichte von Talisa Oriana - Young Circle

«Nichts» – Eine Geschichte von Talisa Oriana

Member Stories 2023

«Nichts» – Eine Geschichte von Talisa Oriana

Inmitten einer mysteriösen Umgebung und umgeben von Dunkelheit erwacht der Protagonist. Er erlebt eine eigenartige Begegnung mit einer geheimnisvollen Person namens «Nichts» und zweifelt an der Realität seiner Umgebung. Eine unerklärliche Stille umgibt ihn, während er auf einem Pingpongtisch verweilt und auf Antworten wartet.

Um mich herum war schwarze Stille.

Der Beton unter meinem Rücken war kalt, immerhin trocken, und an den Stellen, wo mein Pullover verrutscht war, spürte ich die Kühle der nächtlichen Brise auf meiner Haut.

Ich blinzelte, versuchte, meine Augen zu öffnen gegen das Gewicht, das meine Lider nach unten zog.

Es brauchte einige Anläufe.

Ich blinzelte, kniff meine Augen zusammen, öffnete sie wieder, unnötig weit.

Flecken von hellem etwas tanzten knapp ausserhalb meines Sichtfelds.

Ein unscheinbare, rote Blinken, der verwaschene, gelbe Schein der Strassenlaternen und das unschuldige weisse Glimmern ganz hoch oben das die Sterne sein mussten.

Ich hasste die Sterne.

Gefühl begann in meinen Körper zurückzukehren, Kribblen in meinen Fingerspitzen, Schauer in meinen Oberschenkeln, unkontrolliertes Zucken meiner Schulterblätter.

Ich zählte die Sekunden, einundzwanzig, zweiundzwanzig, setzte mich auf.

Schaute auf meine Hände, spreizte meine Finger.

Genug Gefühl, um Bewegung zu erzwingen, nicht genug, um sie spürbar zu machen.

Ich brachte meine Hände, meine zittrigen, schwachen Hände mit denen ich mich siebzig Jahre älter fühlte, an mein Gesicht, tastete über meine Stirn und Nase, strich über meine Wangen, wischte meine Lippen ab.

Die Berührungen fühlten sich dumpf an, viel zu weich für das, was sie waren.

Als ich meine Hände wegzog und im gelblichen Schimmer der zehn, fünfzehn Meter entfernten Strassenlaterne betrachtete, klebte kein Blut an ihnen und sie schienen auch sonst unversehrt; keine Risse in der dünnen Haut, die sich über meine Knöchel spannte, keine Kratzer auf meinem Handrücken. Eines meiner Nagelbetten schien sich zu entzünden; es war rot und geschwollen, sollte sich heiss anfühlen.

Mein Kopf tat nicht weh, aber als ich ihn probeweise schüttelte, wirbelten die Lichter, rotes Pünktchen, gelbes Scheinen, weisses Fleckchen, um meinen Kopf.

Ich blinzelte.

Die Lichter beruhigten sich.

Eine dicke, schwarze Stille füllte meine Ohren.

Nicht die Art von Stille, die man von zugehaltenen Ohren kannte, nicht die, in der man feststeckte zwischen dem Ausrufen von Rang und Namens bei einer Siegerehrung.

Nein, das war keine solche Stille.

Sie war einschliessend, so dick, dass es sich unnatürlich anfühlte.

Es erinnerte ans Schwimmen im Meer und daran, wie das Wasser meine Ohren füllte, und die Geräusche von oben am Wasserspiegel, das Branden der Wellen und Schreien kleiner Kinder, verschwunden waren, wie durch Watte zu mir gedrungen waren.

Ich schaute mich um, bewegt meinen Kopf langsam, behutsam..

Ich sass auf einem Pingpongtisch in der hintersten Ecke eines Pausenplatzes, angeblinkt vom roten Pünktchen einer Sicherheitskamera.

Mit einem leichten Lächeln, das ich sofort bereute – meine Gesichtsmuskeln zu taub für solche Gymnastik –  und einstellte, legte ich mich zurück und begann zu warten.

Es war nicht das erste Mal, dass ich mich hier fand.

An diesem Ort, wo ich mir nie ganz sicher sein konnte, was wirklich echt war, wirklich passierte und was ich mir nur ausdachte, dazu fantasierte.

Sie nannte es das Nichts.

Nicht weil es nichts gab, die Welt um mich schien echt genug, aber weil es nichts gab, an dem man sich festhalten, sich orientieren konnte, nichts gab, das den Sumpf, der das Innere meines Kopfes war, durchdringen konnte.

Sie war ein furchtbar seltsamer Mensch.

Mit dem Ballerinadutt, den ausdrucksvollen Augen und langen Beinen schaute sie ganz gewöhnlich aus.

Es war die Art, wie sie sprach und eine Handbreite über dem Boden schwebte, die mich stutzig machte.

Ich unterhielt mich gerne mit ihr, hier im Nichts, wo ihre Stimme das einzige war, das ich hören konnte.

Unsere Unterhaltungen waren auch seltsam, irgendwie sinnlos, obwohl alles, was sie erzählte, wichtig erschien in dem Moment, in dem die Worte ihren Mund verliessen und sich über unsere Köpfen spannten.

Sie redete gerne.

Erzählte von Sudoku und Sgt. Pepper, von Büchern und Kichererbsen.

Sprach über Politik, das Wetter, Nachbaren.

Je länger ich nachdachte, desto nichtssagender ihre Geschichten.

Ich hörte auf damit.

Ich wartete, zählte die Sekunden, sechshundertelf, sechshundertzwölf, schaute in den Himmel.

Die verhassten Sterne glitzerten vor sich hin.

Ich hatte nie verstanden, wie so viele sich von ihnen getröstet fühlen konnten.

Ich fühlte mich verspottet.

Vielleicht lag es am Nichts, das mein Denken so langsam war.

Ich wusste, ich war intelligent, wusste, wie schnell ich dividieren und die vierundfünfzig Staaten Afrikas auflisten konnte.

Etwas an der schwarzen Stille verschleierte alles.

«Denkst du, die Erde ist flach?»

Ich schnellte hoch und prompt verschwamm meine Sicht.

Neben mir sitzend lachte sie.

Sie trug keinen Namen, zumindest nicht das ich wusste. Insgeheim nannte ich sie Nichts.

Sie tauchte auf aus dem Nichts, unerwartet, und verschwand wieder, urplötzlich.

Bloss einmal hatte ich gewagt nachzufragen.

‚Auftauchen‘ hatte sie beleidiget.

«Hineinscheinen›, hatte sie gesagt, empört. Sie würde ‹Hineinschneien›.

Ob ich sie nicht müsste kommen sehen, wie eine bodennahe Schneeflocke, hatte ich argumentiert.

Das müsste ich auch, wäre sie nahe genug an der Wasseroberfläche, hatte sie gekontert, und das täte ich nicht.

So hatte sich erledigt: sie kam im Nichts aus dem Nichts, um wieder ins Nichts zu verschwinden.

«Nein, das denke ich nicht.»

Sie schüttelte ihren Kopf. «Nein. Das habe ich auch nicht erwartet.»

Mehr hatte sie heute nicht zu sagen.

Ich wusste nicht, wie lange wir dasassen, die Zeit hier tickte im rubato.

Wir sprachen nicht.

Sie war noch komischer heute.

Irgendetwas störte mich an ihr, ihrem durchsichtigen, flackernden Schein, der Art, wie sie auftauchte, hineinschneite.

Irgendetwas ausserhalb des Nebels meines Denkens brannte lichterloh, irgendetwas war seltsam, so falsch, dass ich, mutiger als ich war, fragen musste.

«Bist du echt?»

Sie lächelte, Gesicht dem Himmel gewandt. Sie liebte die Sterne.

«Bist du es?», fragte sie zurück und ich dachte darüber nach, bis sie von meiner Seite verschwand und ich mich zurück auf den Tisch legte, als die Morgensonne begann, den Himmel hinaufkletterten, ich meine Finger auf meinen Wangen spürte und das entzündete Nagelbett zu brennen begann, als ich mich aufraffte und dorthin zurückkehrte, woher ich gekommen war.

Ich dachte darüber nach, als sich meine Augen richtig öffneten, meine Sicht schärfer wurde und alles in klare Farben tauchte, als die Stille stiller wurde, sich mein Gehirn aus dem Nebel loslöste und ich in meinem Zimmer erwachte und Nichts das einzige war, das ich wirklich verstehen konnte.

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