"Nicht alles ist sichtbar" – eine Geschichte von Noemi Maritz - Young Circle

«Nicht alles ist sichtbar» – eine Geschichte von Noemi Maritz

Member Stories 2022

«Nicht alles ist sichtbar» – eine Geschichte von Noemi Maritz

Ich öffnete WhatsApp und wählte den oben angepinnten Chat. Meine Finger flogen nur so über die Tastatur. Wenige Sekunden später stand auf dem Display “Wollen wir späteren in ein Café gehen?“ Ich schaute noch kurz zu, wie die Nachricht zwei kleine Hacken bekam. Das Handy glitt leise zurück in meinen Rucksack, und ich widmete mich wieder dem Unterricht.

Der Bus bog vor dem Schulhof ein, also stand ich auf. Als ich nun wieder einmal durch das grosse Tor der Ravenrose Akademie ging, begann das fünfte Schuljahr für mich. Mit den Gedanken irgendwo in der Ferne ging ich auf das Hauptgebäude zu. Sanft wurde ich von der Seite angestupst. Aus meinen Gedanken gerissen, schaute ich die Person neben mir an. Es war Amy. Amy ist meine beste Freundin seit ein paar Jahren. Bis wir an den Spinden waren, wurde ich von ihr vollgetextet. Bei den Spinden angekommen, packte ich mein Zeugs um. Als erstes fiel mein Blick auf ein Foto von einem Mädchen, das in meinem Spind hing … Es war ein Klassenfoto. Doch dieses eine Mädchen war umkreist. Ich lächelte. Amy schlug mir den Spind vor der Nase zu. „Wir müssen los.“ Ich verdrehte die Augen, doch ich folgte ihr ohne Widerrede. Wir betraten das Klassenzimmer von Herrn Schindler. Ab da erwarteten uns zwei Geschichtsstunden. Nach Geschichte mussten wir uns zur Begrüssung der neuen Erstklässler in der Aula versammeln. Die weiteren Lektionen nach der Begrüssung vergingen rasend schnell.

Als ich in der Kantine ankam, sass Amy bereits an einem Tisch. Sie war eine miese beste Freundin. Denn sie hatte sich genau an den Tisch gesetzt, an dem das Mädchen sass, auf das ich eventuell einen sehr kleinen Crush hatte. Ich warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Als ich mich zu ihnen an den Tisch setzte und „Heyy“ sagte, grinste mich Amy schadenfreudig an. Doch das bekam das Mädchen, das noch hier sass, nicht mit. Sie war nämlich blind. Doch in exakt diesem Moment sagte eben dieses Mädchen: „Du bist so unlustig Amy! Hallo Jade, was stellt sie wieder Doofes an?“ Ihr Gehör war jedoch ausgezeichnet, wie sie gerade wieder einmal bewiesen hatte. Ich erwiderte: „Sie hackt darauf herum, dass ich manchmal mit den Gedanken wo anders bin.“ „Ach Jade, ist es schon wieder passiert?“ Amy stiess zwischen ihrem Lachen ein belustigtes „Jup“ heraus. Ich hingegen begann meinen Salat zu essen. Somit war das Gespräch beendet. Als es wieder klingelte, schnappte ich mir mein und Mirus Tablett und sagte beim Weggehen: „Bis später Miru!“ Hinter mir rief es: „Warte auf mich!!! Ich bin verdammt nochmal nicht so schnell wie du!!!“ Das wusste ich zwar genau, aber ich fand, wenn Amy mich ärgerte, durfte ich das auch.

Der Englischunterricht nach dem Mittag war wieder einmal langweilig. So leise wie möglich zog ich mein Handy aus der Tasche. Im Prinzip hätte es nichts gemacht, wenn der Lehrer es gesehen hätte, denn alle waren am Handy. Ich öffnete WhatsApp und wählte den oben angepinnten Chat. Meine Finger flogen nur so über die Tastatur. Wenige Sekunden später stand auf dem Display “Wollen wir späteren in ein Café gehen?“ Ich schaute noch kurz zu, wie die Nachricht zwei kleine Hacken bekam. Das Handy glitt leise zurück in meinen Rucksack, und ich widmete mich wieder dem Unterricht.

Nach dem Unterricht schlenderte ich aus dem Klassenzimmer und ging zu meinem Spind. Da angelangt, piepste mein Handy. Eine Nachricht von Miru ploppte auf dem Bildschirm auf. “Sehr gerne;) in welchem?“ stand da. Die Antwort war einfach. “Autumns?“ Die Nachricht war kaum gesendet, da kam die Antwort schon zurück. “Bis gleich, sehen uns ;)“ Ich wusste, dass es viele nicht verstehen würden, doch seit einiger Zeit habe ich auch Schmetterlinge im Bauch, wenn ich die Nachrichten eines bestimmten Mädchens lese, und das war wieder der Fall. Das einzige Problem war, ich wusste nicht, ob sie dasselbe für mich empfindet. Ich machte mich auf den Weg ins Café. Zugleich begann es leicht zu regnen.

Als ich im Café ankam, sah ich Miru schon an einem schönen Fensterplatz. Ich schritt zu ihr. „Hey, wie war dein Nachmittag?“ Sie war einfach wunderschön, wie sie da am Fenster sass und es draussen regnete. Okay, stopp! „Ganz Oki und deiner so?“ Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Bisher normal, aber das kann sich noch ändern.“ Ihre Antwort löste wieder tausende Schmetterlinge in meinem Bauch aus. Ich setzte mich ihr gegenüber. Gedankenverloren sah ich aus dem Fenster. „Jade?“ Mist, das war mir irgendwie peinlich, ich hatte Miru nicht mehr zugehört. „Ja? Tut mir leid.“ Miru musste lächeln. Nun sagte sie: „Ich hatte nur gefragt, was du später noch machst.“ Ich hatte bisher noch nichts geplant. „Nicht viel, wieso?“ Darauf erwiderte sie: „Ach nur so …“ Als unsere Bestellung kam, hatte ich das Gefühl, das ich mich neben Miru setzen sollte. Mit all meinem Mut setzte ich mich also kurzerhand um. Ein leises „Oh“ entglitt ihr. Wir quatschten den ganzen Nachmittag. Als es gegen fünf zu regnen aufhörte, fragte ich sie: „Hättest du Lust, einen Spaziergang zu machen?“ Mit einem Lächeln im Gesicht sagte sie: „Ja, sehr gerne!“ Wir zahlten und verliessen das Café.

Gemütlich gingen wir Richtung Park. Plötzlich spürte ich eine Hand, die sich an meinem Arm hielt. Leise fragte ich: „Alles gut, Miru?“ „Ja, ich bin nun mal blind. Ich wollte nur das ich im Park ohne Stock gehen kann…“ Ich unterbrach sie. „Hey, ist ja schon gut, ich war nur überrascht.“ Schweigend gingen wir weiter. Um diese Jahreszeit war der Park einfach wunderschön. Es war schade, dass ich diesen Anblick nicht mit Miru teilen konnte. Auf einer kleinen Brücke blieben wir stehen.

„Hörst du die Vögel?“ Ich lächelte sie an. „Ja.“ Ich hatte das Gefühl, dass die Zeit stehen blieb. Sie war wunderschön … Aus dem Nichts lagen ihre Lippen auf meinen. Ich drückte sie an mich … sie legte ihre Hände an den Rand meines Gesichtes. Ich fühlte mich so geborgen. Und wie es aussah sie auch. Wir blieben einfach so da stehen. Es begann wieder zu regnen. Doch das machte es irgendwie noch schöner. Ganz leise, fast schon unhörbar, flüsterte sie: „Ich kann dich zwar nicht sehen, dennoch bin ich mir sicher, dass du eine Fee bist …“

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