Dunkelheit, alles um mich war in der Dunkelheit versunken. Kein Wunder, es war auch mitten in der Nacht. Halbschlafend sass ich am Schreibtisch, bewusst dessen, dass ich noch meinen Aufsatz für Latein fertigstellen musste. Meine Konzentration wurde mit jeder Minute schwächer. Ich griff zu meiner Tablettenpackung und spülte die Ritalin-Pille mithilfe des Wassers in einem Zug runter. Diese Handlung war so selbstverständlich, dass ich mich schon längst mal hätte fragen sollen, wie ungesund das eigentlich war. Aber schliesslich war ich im Stress und musste mich konzentrieren.
Was konnte ich dafür, ständig wegen der Schule unter Druck zu sein?
Wegen des Medikaments war ich genug auf Latein fokussiert, um das Geräusch erst ein paar Augenblicke verzögert wahrzunehmen. Das Geräusch einer knarzenden Schranktür.
Nein, nicht einer, sondern meiner Schranktür.
Ich drehte mich langsam auf meinem Schreibtischstuhl um und erstarrte. Meine Gesichtszüge entgleisten mir. Ich blinzelte mehrmals. Es musste der Schlafmangel sein, der an diesen Halluzinationen schuld war. Doch auch nach mehrfachem Augenreiben blieb sie da. Eine Gestalt, die genauso gut aus einem Horrorfilm hätte stammen können. Sie trat hervor und blieb vorerst auf meinem roten Perserteppich stehen. Eingehend betrachtete ich dieses Etwas. Mein Blick wanderte nach unten, zu dessen Füsse. Wobei der Teil, wo die Füsse hätten sein sollen, leer war. Stattdessen sah man ein blutiges Ende oberhalb der Stelle, an der normalerweise der Fuss aufhörte. Die Beine waren mit tiefen Schnittwunden versehen. Ein weisses, zerfetztes Kleid voll mit Blut und getrocknetem Dreck bedeckte seine Oberschenkel sowie den Oberkörper und die Arme. Dieses Gesicht aber war es, was mir das Blut in den Adern gefrieren liess. Ein gräulicher Teint und stechend gelb-grüne Augen, welche mir auf den Grund meiner Seele starrten. Anstelle eines linken Nasenflügels war nur dunkles, eingetrocknetes Blut. Zwei tiefe Schnittwunden, die sich kreuzten, prangten auf der rechten Wange. Die Lippen waren in der Mitte aufgeplatzt und verkrustet mit weiterem, fast schon schwarzem Blut. In seinem Mund blitzen gelbe Zähne auf. Nicht weniger spitz als die eines Hais. Haare hatte dieses Biest keine, dafür aber eine alte Platzwunde, die bei einem Menschen umgehend genäht worden wäre. Mir war speiübel. Ich wollte mich an meinen Armlehnen festklammern, doch ich spürte weder meine Finger noch meine Zehen, geschweige denn irgendein Körperteil von mir.
Einmal blinzelte diese Gestalt und kam dann direkt auf mich zu. Mein Herz blieb stehen. Ich war unfähig zu atmen. Das letzte, was in mein Sichtfeld trat, war mein weisser Wecker, der 01:39 Uhr anzeigte, bevor dieses Monster seine langen, verrottenden Fingernägel in meine Brust trieb, während die andere Hand gezielt meine Schreie dämpfte.
Ich setzte mich kerzengerade auf, Schweiss tropfte von meinen Schläfen auf meinen Stuhl. Mein Atem verhielt sich wie nach einem Marathon und meine Augen wurden geblendet von einer Lampe. Nervös trommelte ich mit meinen Fingern auf dem Schreibtisch herum, so wie ich es immer machte, wenn ich in Panik war. Mit zitternden Fingern griff ich zu meinem Wasserglas und führte es zu meinem Mund. Ich trank gierig und spürte die Kälte meinen Körper hinabfliessen.
Dann beschlich mich eine Ahnung: Ich musste eingepennt sein, bevor ich den Aufsatz zu Ende bringen konnte. Ich hatte gewusst, dass diese Gestalt nicht echt sein konnte, so furchteinflössend wie sie war. Mensch, war ich froh, das alles nur geträumt zu haben.
Das war, bevor ich meinen Wecker 01:36 Uhr anzeigen sah und plötzlich das Geräusch einer knarzenden Schranktür hinter mir hörte.
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