Musik kann dich Dinge fühlen lassen, die du noch nie gefühlt hast. Sie erzählt Geschichten. Die Kombination von Worten, Tönen und einer Stimme kann Emotionen so gut rüberbringen wie sonst nichts. Dessen ist sich Emil sicher. Er selbst kann jedoch nur die richtigen Worte finden. Er hat viele Ideen für Geschichten, die in Songs erzählt werden könnten, doch weiter kommt er nie. Zwar können Geschichten auch ohne Melodie verzaubern, aber er bewundert alle, die die Kunst der Musik beherrschen. Früher erzählte Emil offen von seiner Begeisterung. Doch die anderen konnten seine Gefühle nie nachvollziehen und manche lachten ihn sogar aus. Da wurde ihm klar, dass er wohl der Einzige ist, der so denkt.
Heute ist Emil ein ziemlich normaler Siebzehnjähriger. Seine Begeisterung hat er tief in sich eingeschlossen und teilt sie mit niemandem. Die Hoffnung, er könne die Magie der Musik erlernen, hat er verloren. Er kann es kaum erwarten, endlich seine Matura abzuschliessen, um mit seinem Germanistikstudium zu starten.
Bald ist es so weit: Die Sommerferien stehen vor der Tür, Emil sieht heute zum letzten Mal sein altes Schulhaus. Und das auch nur für die Abschlussparty. Er freut sich auf einen schönen Abschied von seinen Klassenkameraden. Sie sind zwar nett, aber da sie alle einen anderen Studiengang gewählt haben, glaubt Emil nicht, dass die Freundschaften lange überleben werden.
Als Emil die Aula betritt, in der die Party stattfindet, wird er von seinen Kumpels und leiser Musik begrüsst. Die Jungs wirken schon leicht angetrunken. Das kann ja lustig werden. Er hält nicht so viel davon, sich zu betrinken, um mehr Spass zu haben. Plötzlich hat Emil doch keine Lust mehr, diesen Abend mit der Klasse zu verbringen. Doch jetzt ist er schon da. Die andern unterhalten sich lautstark, während Emil sich erst mal umsieht. Die Aula ist grau wie immer, die leise dudelnde Hintergrundmusik ist nichts Grossartiges. Die Bühne ist bereit für die Auftritte verschiedener Schülerbands. Hoffentlich geht es bald los. Alle stehen bloss blöd herum und betrinken sich. Endlich ist es so weit: In den Lautsprechern knistert es und die öde Musik verstummt. Die erste Band hat Emils ganze Aufmerksamkeit, als sie auf die Bühne der Aula tritt und sich Scheinwerfer auf sie richten. Der Raum verstummt langsam, als die vier ihre Plätze einnehmen. «Die ist aber hübsch!», grölt einer von Emils Freunden viel zu laut in die Stille hinein und Emil verdreht angewidert die Augen. Dann zählt der Schlagzeuger ein und das Mädchen fängt an zu singen. Das Lied handelt von einem gebrochenen Herzen, das fühlt Emil, auch ohne auf die Worte zu achten. Es ist wunderschön und Emil verliert sich in diesem Gefühl, das er noch nicht kennt. Wie schrecklich muss es sein, von einem geliebten Menschen abgelehnt zu werden. Das arme Mädchen denkt gerade sicher an ihren Ex, sonst könnte es sich nicht so echt anfühlen. Emil schliesst die Augen und lässt sich in diese Stimme fallen. Sie ist sanft und zerbrechlich, weshalb es sich regelrecht brutal anfühlt, als das Lied vorbei ist und lauter Applaus und Grölen die wunderschöne Stimmung zerbrechen. Als Emil sich wieder erholt hat, ist die Gruppe schon von der Bühne verschwunden.
Es folgen noch weitere Performances, doch keine ist so gut wie die erste. Schliesslich nimmt eine DJane die Bühne ein und die Party geht richtig los. Emil fühlt sich in der fröhlich hüpfenden Menge fehl am Platz. In seinem Herzen klingt immer noch der Schmerz der Sängerin nach. Emil entschuldigt sich bei seinen Freunden und verlässt das Gebäude, um draussen auf den Treppenstufen etwas runterzukommen. Doch als er die Tür öffnet, ist da schon jemand. Ganz still sitzt sie da und blickt in die Dunkelheit. Emil setzt sich neben sie und ihm stockt der Atem: Es ist die Sängerin. «Hey», sagt er vorsichtig, «dein Auftritt war unglaublich!» Sie wendet sich ihm zu: «Danke, freut mich, dass es dir gefallen hat! Ich bin Lia, wie heisst du?» Emil stellt sich vor und die beiden unterhalten sich ein wenig über ihre Pläne nach der Matura und ihr sonstiges Leben. Dann verfallen sie in ein angenehmes Schweigen. Emil fragt sich, wie er dieses wundervolle Mädchen bisher in der Schule übersehen konnte. Er kann nicht an sich halten, plötzlich ist es, als ob sich ein Damm geöffnet hätte, und er erzählt Lia alles, was er schon lange niemandem mehr erzählt hat. Sie hört aufmerksam zu, bis er geendet hat. Dann schaut sie ihn halb bewundernd und halb traurig an: «Das Talent, Geschichten zu schreiben, ist toll! Ich würde das auch gerne können…» Emil ist überrascht: «Du kannst das nicht? Wer hat denn dann den Songtext zu deinem Lied geschrieben?» Lia lächelt leicht gezwungen: «Der ist von meinem Freund.» Emil starrt sie an. Er fühlt sich, als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen. Sie hat einen Freund. Emil weiss, dass ihn das eigentlich nicht so traurig machen sollte. Er sollte sich freuen, dass dieses nette Mädchen nicht aus eigener Erfahrung gesungen hat. Doch er kann es nicht. Abrupt steht er auf: «Ich muss zu meinen Kollegen zurück. Es war schön, dich kennenzulernen.» Lia schaut ihm überrascht nach, als er sich wieder in die Party stürzt.
Dieses Mal sind ihm seine Grundsätze egal. Er kippt eine Flasche Bier runter. Die Wirkung kickt sofort, aber trotzdem fühlt er noch den Schmerz in seiner Brust. Vor allem, als er Lia mit einem Jungen sieht, der wahrscheinlich ihr Freund ist, zieht sich Emils Herz zusammen. Lias Freund drückt ihr eine Flasche in die Hand und tanzt dann mit ihr. Als er nicht hinschaut, stellt sie angeekelt ihr Bier ab. Emil wendet sich ab. Von irgendwoher kommt noch eine Flasche und er nimmt einen grossen Schluck. Das reicht schon aus, um ihn später beim Karaoke auf die Bühne zu bringen. Aus vollem Herzen singt er «Treat You Better» von Shawn Mendes und lässt Lia dabei nicht aus den Augen. Als er von der Bühne taumelt, drängt Lia sich zu ihm durch. Sie sieht ihm in die Augen: «Wenn du wieder nüchtern bist, schreiben wir einen Song zusammen.»
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