Das Moor war finster und kalt. Seine Dunkelheit verschluckte jegliches Licht und liess nur die grausigsten Nachtgewächse gedeihen. Die Geräusche, die zur finstersten Stunde aus den Tiefen eben dieser Dunkelheit erklangen, liessen ausnahmslos jedes Lebewesen einen grossen Abstand wahren.
Dem Mädchen hatte all dies nie viel ausgemacht. Nein, das Moor liess sie neugierig und erwartungsvoll Nächte lang dem Kreischen der Lebewesen darin horchen. Sie erkannte das Mystische und Geheimnisvolle, was andere zurückschrecken liess.
Und dazu kam, dass man etwas, was man schon sein Leben lang kannte, nicht so recht zu fürchten wusste. Diese Grundwahrheit war weder für das Mädchen noch für jeden anderen von Vorteil. Doch das Mädchen war jung und ausserdem Hand in Hand mit dem Moor aufgewachsen.
In ihrer Vorstellung war im Innern des Moores eine Zauberwelt voller Geheimnisse und Abenteuer versteckt. Sie wünschte sich, eines Tages das verbotene Gebiet zu erforschen.
Solche Träumereien kamen nicht von ungefähr. Sie waren dem Mädchen in die Wiege gelegt worden. Denn auch ihr Vater konnte dem Moor nicht widerstehen. Jedes Jahr an dem genau gleichen Tag zog er los in dessen Tiefen. Er kehrte mit der Abenddämmerung und Tierfellen aus Silber und Gold zurück. Er brachte das Gut zum Überleben der Familie. Doch was er selbst dafür bezahlen musste, war furchterregend und gar erschreckend. Denn jedes Jahr an dem genannten Tag, wenn der Vater mit vollen Händen zurückkehrte, dann waren seine Augen leerer als zuvor. Es schien, als würde ihm das Moor einen Teil seines Selbst rauben.
Dies wusste das Mädchen klarerweise nicht. Deshalb hatte sie den heutigen Tag herangesehnt. Lange Monde hatte sie darauf gewartet, endlich ihren Vater in das Moor zu begleiten. Und nun war es so weit.
Schon früh morgens weckte der Vater sie und liess sie den alten Gaul vor den Wagen spannen. Ihre Finger zitterten vor Vorfreude und in ihren Augen glänzte der Schimmer einer Abenteurerin.
Die Mutter stand mit geballten Fäusten im Türrahmen. Für sie war es schon schwer genug, ihren Mann loszulassen. Doch ihr einziges Kind…
Trotz der Ängste der Mutter, zogen der Vater und das Mädchen beim Zeichen der ersten Sonnenstrahlen Richtung Moor los. Je näher sie kamen, desto kälter wurde es. Als sie die ersten verdorrten Bäume erreichten, waren die Finger des Mädchens blau gefroren.
Ehe das Mädchen sich versah, waren sie in die Finsternis eingetaucht. Zu ihrer Überraschung, war es ihm Moor still. Unheimlich still. Es gab keinen Wind und erst recht keine kleinen Lichter, die ihnen den Weg zeigten. Das Gestrüpp rund um sie war wie versteinert. Kleine Nebelschwaden wanderten auf dem Boden und schienen nach dem Mädchen zu greifen. Das Mädchen wagte einen unsicheren Blick in das Gesicht ihres Vaters. Dieser schaute stur und mit einem Schleier auf den Augen dem Weg vor ihnen entlang und beachtete sie kaum. Es kam ihr vor, als hätte er vergessen, dass sie neben ihm sass.
Nach einer schier endlos langen Fahrt hielten sie auf einer kleinen Lichtung. Hier fühlte sich die Kälte nicht mehr ganz so zerrend an, wie zuvor. Das Mädchen schreckte auf, als ihr Vater aus dem Wagen stieg und sie zurückliess. Wie in Trance lief er in Richtung Gestrüpp und war urplötzlich darin verschwunden. Das Moor hatte ihn verschluckt.
Dem Mädchen wurde mulmig zu mute und sie zog die Felle auf dem Wagen enger um sich. Sie wartete lange, lange Zeit auf ihren Vater. Einen Schritt auf den Boden des Moores zu machen, dies traute sie sich nicht. Irgendetwas sagte ihr, dass sie ihre Mutter dann nicht mehr wieder sehen würde.
Sie hätte es jedoch trotzdem fast getan, wäre der Vater nicht im selben Moment zurückgekehrt. Auf seinen Armen trug er, wie auch sonst, einen Haufen voller schimmernder Felle. Der verrückte Glanz war aus seinen Augen getreten und einem gehetzten Blick gewichen. Er stiess ein gemurmeltes «schnell» hervor und der alte Gaul zog sie in einer unmöglichen Geschwindigkeit durchs Moor zurück in Richtung zuhause.
Dem Mädchen erschien der Rückweg länger. Und schlimmer. Sie fühlte sich beobachtet und als wäre dies nicht schon genug, hörte sie eine Stimme: «Bleib, Kind.» Wie ein Singsang erklangen diese Worte. Das Mädchen war verzaubert. Die Stimme war wie ein Geschenk des Himmels. So lieblich sanft wie die ihrer Mutter. Und so ruhig und voller Magie. Auch über den Augen des Mädchens tauchte ein Schleier auf.
Der Vater achtete nicht darauf, als das Mädchen sich ein gutes Stück zu weit aus dem Wagen lehnte und die Nebelschwaden nach ihr griffen. Das Mädchen streckte die Hand danach aus. Und sie neigte sich noch weiter vor, immer weiter…
Und als der Vater, dem Moor entflohen war und nach dem Mädchen sehen wollte, da erkannte er, dass das Moor dieses Mal nicht nur seine Zeit und ein Teil seines Selbst, sondern auch sein einziges Kind gestohlen hatte.
Und wenn sich heutzutage jemand dem Moor näherte und heil wieder zuhause ankam, dann erzählte man vom Seufzen des Moormädchens. Es war endlich, endlich angekommen.
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