Der menschliche Verstand ist wahrlich das Gruseligste von Allem.
Sie trägt ein weisses Kleid, blutüberströmt. Ihre Wimperntusche ist verschmiert und ihr Gesicht schmutzig. Eine Träne rinnt ihre Wange herunter. Ihre dunklen Haare sind verstrubbelt und ihre sonst tiefblauen Augen, sind grau und leer. Ich verscheuche den Gedanken, unterdrücke meine Tränen und wende den Blick vom goldverzierten Spiegel in meiner Hand ab. Immer, wenn ich hineinblicke und die Spiegelung sehe, sehe ich meine tote Zwillingsschwester. June.
Wieso ist es June gewesen? Wieso nicht ich?
June war perfekt. Sie war freundlich zu jedem.
Egal, was für ein Idiot es war.
Aber ich? Man könnte meinen, wir waren uns ähnlich, aber so ist es nicht.
Ich werde wachgerüttelt aus meinen Gedanken, als Ilvy beginnt, mit mir zu sprechen. Sie ist selbstbewusst und hübsch und alle finden sie grossartig.
Und sie war June’s beste Freundin.
«Alice! Ich brauche ganz kurz deine Hilfe bei etwas.»
Ich schüttle den Kopf heftig: „Auf keinen Fall.“
Ilvy gibt nicht auf: „Komm schon Alice. June half auch immer, wenn sie konnte. Bitte! Sei einmal wie June, sie wäre stolz auf dich.“
Die Erkenntnis rüttelt mich wach und eine Welle der Gefühle poltert über mich herein: „Nein wäre sie nicht. Nur weil du ihre Freundin warst, bist du nicht automatisch auch meine! Du willst mich nur ausnutzen, weil June weg ist. Schade, dass sie ermordet wurde, was?“
Mein Ton ist bissig und schreit vor Wut. Ilvy geht einen Schritt zurück: „Alice, du machst mir Angst, wenn du so sprichst.“
Mir gefällt es, wie eingeschüchtert sie ist und wie sehr Ilvy zittert.
„Das ist auch gut so.“
«Hör auf! June hätte das nie gemacht!»
Ich verliere die Kontrolle, packe Ilvy’s Arm und gebe ihr mit der anderen Hand eine Ohrfeige. Ilvy schreit auf: „Alice, hör auf!“ und reisst ihren Arm aus meinem festen Griff.
„Wieso ist deine Schwester tot? Hm?“ sie reibt sich über die schmerzende Wange, „vielleicht hast du sie ja umgebracht!“
Ich schrecke zurück und balle meine Hände zur Faust. Die Welle legt sich, schäumt noch leicht, bis sie verschwindet.
Ich senke meinen Kopf, murmele: „Entschuldigung“
Und renne weg. Niemand soll sehen, dass ich weine.
Die Welle, die den Drang, jemanden zu verletzten mitbringt, ist unbezwingbar. Sie steigt immer wieder auf, wie Magensäure, kurz vor dem Erbrechen.
Tränen rollen über meine Wangen.
„Vorsicht Pfosten.“
Ich blicke auf und sehe einen fremden Mann, der seinen Arm schützen zwischen mir und dem Pfosten ausgestreckt hat. „Weinst du?“
„Lass mich in Ruhe!“ höre ich mich rufen.
Plötzlich ist er weg. Vom Erdboden verschluckt.
War er überhaupt da?
Schnell renne ich in die Mädchentoilette und beginne laut zu schluchzen.
Wieso will man mich zu Dingen zwingen, die ich nicht will?
Wieso werde ich für Junes Mord beschuldigt?
Wieso kann ich nichts selbst entscheiden?
June war so perfekt, warum ich nicht?
Warum ist jeder perfekt, ausser ich?
Wieder dieses Gefühl, wieder diese Welle.
Die Welt dreht sich. Ich muss jemanden leiden sehen.
Ich schlage den Seifenspender auf den Boden. Es reicht nicht.
June. Sie hat mir immer geholfen. Aber sie ist weg. Tot.
Jemand betritt die Toilette. Ilvy.
„Alice, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht beschuldigen!“
Die Beherrschung sickert aus mir und ich explodiere: „Ich werde aber immer beschuldigt werden! Ich werde niemals genug sein. Für niemanden.“
„Das stimmt doch gar nicht. Nichts bleibt für immer. Dinge ändern sich. Menschen ändern sich.“
„Nein Ilvy! Ich aber nicht! Ich bin…ich bin…nicht…genug!“
Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen.
Meine Sicht verdunkelt sich, mein Bewusstsein flackert in meinem Kopf.
Ilvy fängt an zu schreien. Ich bin innerlich erstarrt zu Stein. Alles dreht sich.
Ich weiss, was als nächstes passieren wird.
«Nein. Nein. Nicht Ilvy. Nein!» schreie ich zu mir selbst.
Dieses Gefühl, es steigt in mir auf. Die Welle überrollt mich. Der Drang füllt meine Adern und pulsiert durch mein Herz.
Alles kommt mir unangenehm bekannt vor.
Noch einmal höre ich Ilvy laut und deutlich schreien. Das Geräusch verschleiert.
Nur noch ein Rauschen dröhnt in meinen Ohren.
Ich finde mich wieder, als ich auf dem Boden sitze.
«Es tut mir Leid, Ilvy.» wimmere ich.
Ich beherrsche mich nicht lange. Eine dunkle Mauer bildet sich vor meinen Augen. Ich habe Angst. Todesangst. Ein Messer wird gezückt. Von wem?
Ich sehe nichts. Spüre nur noch.
Ein Schrei. Vielleicht mein eigener?
Wieder Stille.
Ich schnappe nach Luft. Falle gegen eine Wand. Was passiert?
Eine Stimme flüstert in meinen Ohren. Ich presse meine Hände gegen meinen Kopf.
Ist die Stimme real? Ist das alles real?
Mein Brustkorb zieht sich zusammen. Mein Verstand kämpft gegen den Wahnsinn an.
Ich kann nicht siegen.
Ich spüre es.
Spüre, wie ich ihn verliere. Er fliesst wie Wasser aus meinen Händen davon.
«Was ist nur aus mir geworden?»
Wieder ein Schrei. Mein Verstand ist weg, verschwommen im Fluss der Vernunft.
Aber ich? Ich werde mit der Welle mitgetragen, ins Meer des Wahnsinns.
Und nichts ist, wie es sollte. Ich atme noch. Ilvy nicht mehr.
Ich knie vor ihrem Grab, starre ihren Namen an.
Ilvy Eastwood
„Es hat irgendwie Spass gemacht, weisst du. Du warst einfach zu perfekt. Das musst du verstehen.“ Ich seufze, stehe auf und gehe weiter, zum nächsten Grab.
June Hamilton
„Das ist mein letzter Besuch. Danach sind wir für immer getrennt.
Mein Verstand hat aufgegeben, June. Die Welle hat mich mitgerissen. Es ist Zeit für mich, auch zu gehen.“
Ich stehe auf und schaue mich ein letztes Mal im von mir platzierten, goldverzierten Spiegel auf ihrem Grab an, bevor ich das Messer ein weiteres Mal benutze, aber bei mir selbst.
Ich trage ein weisses Kleid, blutüberströmt. Meine Wimperntusche ist verschmiert und mein Gesicht schmutzig. Eine Träne rinnt meine Wange herunter. Meine dunklen Haare sind verstrubbelt und meine sonst tiefblauen Augen, sind grau und leer.
Der menschliche Verstand ist wahrlich das Gruseligste von Allem.
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