"Mein Weg zu mir" – eine Geschichte von Emilia Czaja - Young Circle

«Mein Weg zu mir» – eine Geschichte von Emilia Czaja

Member Stories 2022

«Mein Weg zu mir» – eine Geschichte von Emilia Czaja

Tränen begannen meine Sicht zu trüben, Tränen der Angst und der Erleichterung, Tränen, die ich viel zu lange zurückgehalten hatte. Sie hatten sich mit mir zusammen hinter all den erfundenen Charakteren versteckt; den Charakteren, die ich mich gezwungen zu sein hatte.

Von einem Klopfen an der Tür wurde ich zurück in die Realität geholt, in die Realität, in der ich eigentlich nicht mehr sein wollte, die Realität, die mir zu viel wurde, sobald ich einige Stunden in ihr verbracht hatte. Ich brauchte einige Sekunden, um mich in meiner eigentlich gewohnten Umgebung zurechtzufinden, blinzelte einige Male, sah mich in meinem Büro um und speicherte schliesslich schnell meine Arbeit, bevor ich den Text, an dem ich, bis eben geschrieben hatte, ausblendete.

Ich eilte zur Tür und öffnete dem Hausverwalter, der mich für einen Moment musterte, bevor er mir einen Brief in die Hand drückte und mir erklärte, dass dieser wohl versehentlich im falschen Briefkasten gelandet sei. Unsicher nach seinem skeptischen Blick nahm ich den Brief entgegen, murmelte eine gehetzte Entschuldigung und schloss, kaum war er ein paar Schritte entfernt, die Tür. Ich entschied mich dazu, den Umschlag erst zu Hause zu öffnen und stellte mit einem Blick auf die Uhr fest, dass ich so vertieft in meine Geschichte gewesen war, dass ich nicht bemerkt hatte, dass schon längst Feierabend war.

Obwohl ich meine Arbeitszeiten als Schriftsteller selbst einteilen konnte, hatte ich mir selbst feste Regeln gestellt, an die ich mich so gut wie möglich hielt. Eine davon — für meine psychische Gesundheit wohl die wichtigste — war, dass meine Arbeit im Büro blieb. Sobald ich das Gebäude verliess, musste ich mich in eine andere Welt begeben als die, die ich für meine imaginären Charaktere erschaffen hatte. Immer noch verunsicherte mich der skeptische Blick des Hausverwalters und für einen Moment betrachtete ich mich selbst in der Spiegelung der Fensterscheibe. Ich sah aus wie immer und war dementsprechend unzufrieden mit mir, doch bevor ich in meinen Unsicherheiten versinken konnte, wehrte ich mich gegen meine Gedanken; begab mich in die Welt meines kürzlich gelesenen neuen Lieblingsbuches, stellte mir vor der Hauptcharakter zu sein und trat mit neuem Selbstbewusstsein auf die Strasse.

In meiner kleinen Wohnung angekommen begrüsste mich, kaum hatte ich die Klinke losgelassen, mein Kater. Gemeinsam machten wir es uns auf der Couch gemütlich, wo ich den Umschlag öffnete. Entgegen meinen Erwartungen befand sich statt einem Brief bloss eine kurze Notiz darin. Eine Einladung, wie ich feststellte, und bereits bevor ich die wenigen Worte zu Ende gelesen hatte, wusste ich von wem sie stammte. Ich hatte Callum vor einiger Zeit auf einer Büchermesse kennengelernt und seither nicht mehr vergessen können. Er schien ein erfahrener Geschäftsmann zu sein, sein Leben im Griff zu haben und regelmässig Erfolge zu feiern.

Aus alter Gewohnheit hatte ich vorgegeben, dass es bei mir genauso ist; Ich hatte mich an ein Buch erinnert, dass ich einst gelesen hatte, und mich ohne Schwierigkeiten in die erfolgreiche Hauptperson verwandeln können, womit ich wohl auch sein Interesse geweckt hatte. Seither waren mir einmal verabredet gewesen, ich hatte mich weiter verwandelt, diesmal in den charmanten Liebhaber, den ich nicht ausstehen konnte, als ich das Buch gelesen hatte, in dem vorkam. Doch heute hatte ich keine Zeit mich zu ändern, in knapp zwanzig Minuten würde Callum bereits hier auftauchen. Ich verfluchte mich dafür den Brief nicht sofort geöffnet zu haben, dann wäre mir noch genug Zeit geblieben, um ihm abzusagen, verfluchte den Hausverwalter dafür, dass er mir den Brief nicht früher gebracht hatte und verfluchte ihn dafür, dass er den falschen Briefkasten erwischt, und die Einladung überhaupt geschrieben hatte.

Schnell zog ich mir ein frisches Hemd an, suchte hektisch nach einer passenden Hose und Jacke, versuchte die aufkommende Angst zu verdrängen, doch kaum hatte ich begonnen meine Zähne zu putzen, war sie endgültig da. Mit kreisenden Bewegungen, ähnlich einer Spirale, auf der sie unaufhörlich weiter glitt, breitete sie sich in jeder Faser meines Körpers aus, in meiner Magengegend verwandelte sie sich in einen schweren Klumpen und kam schliesslich zum Stehen. Sie schien meine Organe zusammenzudrücken, nahm mir die Luft und warf Fragen in mir auf, über deren Antwort ich nicht nachdenken wollte. Was wenn er mich nicht mochte, wenn ich mich selbst war? Wie musste ich mich verhalten, um mich selbst zu sein? Und die wohl schwierigste: wer war ich überhaupt?

Das Klingeln an der Tür trieb Tränen in meine Augen, schnell wischte ich mir mit dem Ärmel meines Hemdes übers Gesicht, bevor ich die Tür öffnete und von Callums strahlendem Lächeln begrüsst wurde, das kaum hatte, er mich gesehen einem besorgten Lächeln wich. Stotternd bat ich ihn hinein, schloss die Tür hinter ihm und konnte nichts dagegen tun, dass mir schwindelig wurde. Doch Callum war vorbereitet, er führte mich zu meiner Couch, setzte sich neben mich und liess mich einige Male tief durchatmen, bevor er sprach.

«Wovor fürchtest du dich?», eine Hand lag an meiner Wange.

Ich widerstand dem Drang zu lange über seine Frage nachzudenken, oder noch schlimmer, gar nicht zu antworten und sprach stattdessen aus, was mir als erstes auf der Zunge lag: «Davor, dass du siehst, wer ich wirklich bin.» Tränen begannen meine Sicht zu trüben, Tränen der Angst und der Erleichterung, Tränen, die ich viel zu lange zurückgehalten hatte. Sie hatten sich mit mir zusammen hinter all den erfundenen Charakteren versteckt; den Charakteren, die ich mich gezwungen zu sein hatte.

Langsam sank ich in Callums Arme und fühlte mich endlich bereit dazu meine Antwort weiter auszuführen: «Ich sehe dich an und auf einmal verstehe ich die Texte, die ich geschrieben habe, ich erlebe die Gefühle, die sich sonst bloss in meinem Kopf abspielen; plötzlich sind sie in meinem ganzen Körper, in jeder Faser spürte ich Wärme und Geborgenheit.»

Danach schwiegen wir. Ich wollte nicht mehr denken, der Drang in mir, meine Maske aufrecht zu erhalten verschwand, gemeinsam mit meiner Unsicherheit, und mit der Zuneigung zu Callum, die je länger desto stärker wurde, wuchs die Liebe zu mir selbst, die Liebe zu meinem wahren ich.

«Ich weiss wer du bist Joshua und du bist wundervoll, in jeder deiner Rolle versteckt sich ein Teil von dir und sobald wir diese Teile zusammengesetzt haben, wirst du vollkommen und unverwechselbar dich selbst sein können.»

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