Menschen kommen und gehen. Es ist immer das Gleiche, ein bemitleidender Blick und betretenes zu Bodenschauen. Keiner sieht mich. Sie sehen nur das Mädchen, welches völlig verdreckt am Strassenrand sitzt, mit dem Hab und Gut, was sie am Körper trägt. Ein ausgewaschenes T-Shirt und eine durchlöcherte Jeans, mehr besitze ich nicht. Ich habe weder Geld noch eine Familie. Mein Alter weiss ich nicht. Solange ich denken kann, lebe ich auf der Strasse. Zuerst lebte ich mit dem etwa 65-jährigen Frederik zusammen unter einer Brücke. Ich habe keine Ahnung, wie ich zu ihm kam. Doch ich musste wohl einen Schutzengel gehabt haben. Denn er hat mich aufgezogen, mich durchgefüttert, mir lesen und ein bisschen schreiben beigebracht. Ja, man könnte schon fast sagen, dass er eine Art von Familie für mich war. Wir haben zusammen die kältesten, härtesten Winter durchgestanden und im Sommer sind wir zusammen durch den Park spaziert. Er gab mir meinen Namen, er fand er würde zu mir passen. Damals schaute er mich aus seinen warmen braunen Augen an und sagte, meinen Namen liebevoll:» Hope, du bist mein kleiner Sonnenschein». Ich vergesse seinen Blick niemals. Er war der einzige Mensch, der mir jemals Beachtung geschenkt hatte und mich wertschätzte. Ich war seine kleine Hope, und in diesem Moment schwor ich mir, es für immer zu sein. Doch es kam alles anders.
Es regnete, als es passiert war. Ich lief gerade mit dem Geld, was ich und Frederik gespart hatten durch die nassen Strassen. Es war kalt, eine Briese liess mich frösteln. Doch ich zögerte nicht. Ich hatte von Frederik den Auftrag bekommen, mit unserem Ersparten Essen zu kaufen. Kurz vor einem Hot-Dog Stand hielt ich an, schaute auf und sah die Frau vor mir an. Ich kaufte bei ihr einen Hot-Dog, für mehr reichte mein Geld nicht. Der Geruch des Hot-Dogs stieg mit in die Nase und mein Magen fing an zu knurren. Erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich war. Voller Vorfreude auf das Essen, lief ich zu unserem Schlafplatz unter der Brücke. Als ich dort ankam, merke ich, dass etwas nicht stimmte. Frederik, der mich sonst immer mit viel Freude empfing, blieb still. Kein fröhliches» Hallo» oder «das riecht ja gut». Nein, alles war still. Mein ganzer Körper verspannte sich, etwas war nicht so, wie es sein sollte. Alarmiert suchte ich die Umgebung nach einer Gefahr ab, bis ich plötzlich Frederik am Boden liegen sah. Er lag einfach nur da und für einen Moment dachte ich, er schliefe. Vorsichtig rüttelte ich an seinem Arm. «Frederik wach auf, ich habe essen geholt» sagte ich hoffnungsvoll. Doch er bewegte sich nicht, langsam stieg die Panik in mir auf. Nein, er ist nicht tot, er schläft nur tief und fest versuchte ich mir einzureden. Langsam legte ich meine Hand auf seinen Bauch, um zu überprüfen, ob er noch atmet. Doch seinen Atem konnte ich nicht mehr spüren, sein Brustkorb hob und sank nicht mehr.
Ich stand einfach da, den Hot-Dog in der Hand. Ich konnte weder weinen noch um Hilfe rufen. Ich konnte mich nicht bewegen und spürte, wie meine Welt zusammenbrach. Der einzige Mensch, dem ich je was bedeutet hatte, war für immer weg. Er würde mich nie mehr liebevoll anschauen. Würde mich niemals mehr seinen kleinen Sonnenschein nennen oder neben mir durch den Park spazieren. Eine Träne kullerte über meine Wange. Ich vergass die Zeit um mich herum. Keine Ahnung, wie lange ich dort gestanden hatte. Bis ich plötzlich aus meiner Trance erwachte. Ich schnappte mir alles, was ich brauchen konnte, und stopfe es in einen alten, abgewetzten Rucksack. Langsam ging ich unter der Brücke hervor. Doch bevor ich komplett draussen war, drehte ich mich noch einmal um und legte meine linke Hand auf mein Herz. Dies war unser Abschiedszeichen gewesen und so nahm ich ein letztes Mal Abschied von Frederik. Langsam drehte ich mich um und lief davon. Diesen einzigartigen Menschen werde ich immer im Herzen mittragen.
Ich lief planlos durch die ganze Stadt und ass meinen Hot-Dog langsam und unbewusst. Mein Gehirn war überfordert und wollte nicht mehr arbeiten. Ich lief und lief. Meine Umgebung blendete ich vollkommen aus, ich achtete auf niemanden. Die Welt stand für mich still. Der Regen durchnässte meine alten Kleider, doch ich hatte nicht kalt. Ich war voller Trauer und konnte mich nicht aus diesem schwarzen Loch retten und so dunkelte es schon langsam ein.
Erst, als die ersten Sonnenstrahlen mein Gesicht berührten wachte ich aus meiner Trance auf. Keine Ahnung, wo ich war. Ich musste die ganze Nacht durchgelaufen sein. Mein Blick suchte nach irgendetwas Vertrautem. Doch da war nichts. Weder ein bekanntes Gebäude noch bekannte Bettler. Ich war allein, keine Menschenseele war um diese Uhrzeit unterwegs.
Das Wetter hatte sich über die Nacht geändert. Es war wärmer geworden, es gab keine Regenwolke mehr am Himmel. Ich roch den frischen Duft von Blumen und sah sie nur Sekunden später. So viele Blumen auf einem Fleck hatte ich noch nie gesehen. Kunterbunt, keine sah wie die andere aus. Einzigartig und schön. Das Gezwitscher von Vögeln drang in meine Ohren. Der Tag erwachte in seiner vollen Pracht, als wäre die ganze Welt in Ordnung. Ich sehnte mich nach diesem Gefühl der Unbeschwertheit und Glücklichkeit und wollte darin abtauchen, doch meine Erinnerungen beförderten mich ins jetzt. Meine Welt war zusammengebrochen, und ich wusste, es würde lange dauern, bis ich sie wieder repariert hatte. Falls dies noch möglich war.
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