Wenn man Madame Misaki die Frage gestellt hätte, wie sie sich beschreiben würde, hätte sie mit «EINSAM» geantwortet. Sie war eine kleine, alte Frau aus einem einfachen Dorf, hatte graues langes Haar, welches sie immer in einem Dutt trug und war seit einigen Jahren Witwe. Sie hatte drei Kinder, welche in Tokio lebten, schon erwachsen waren und keinen engen Kontakt mit ihr pflegten. Manchmal jedoch schrieben sie ihr eine Postkarte. Sie besass einen Teeladen und wohnte in einer kleinen Wohnung über ihrem Laden. Das ganze Dorf kannte ihr Geschäft und ging gerne dort einkaufen. Madame Misaki war schwer krank und hatte nicht mehr lang zu leben.
Da lief sie nun eines Tages ihre gewohnte Strecke im Park, den Blick stets auf den Boden gerichtet, wie sie es immer tat. Ihre Mutter hatte sie einst als kleines Mädchen gelehrt auf den Boden zu schauen, um zu vermeiden, dass sie stolperte. Plötzlich sah sie ein Kaugummipapier auf dem Boden liegen, auf dem etwas draufstand. Sie drehte es behutsam um und las, «Brauchst du einen Freund? Ruf an», und dann stand da eine Nummer geschrieben. Sie musste lachen und wollte das Papier wegwerfen, aber sie entschied sich es zu behalten. Den ganzen Abend sass Madame Misaki in ihrer Stube und lass. Das Feuer im Kamin knisterte leise. Nach einer Weile wurde sie müde und machte sich auf den Weg in ihr Schlafzimmer, doch da sah sie das Kaugummipapier. Morgen würde sie ihr Glück versuchen, beschloss sie. Am nächsten Tag wachte sie früh auf, da sie noch vor Öffnung des Ladens die Nummer anrufen wollte. Sie zog sich ihren Mantel an, steckte das Kaugummipapier ein und lief zur Telefonkabine am Ende des Dorfes. Es war noch fast keine Menschenseele wach. Der Nebel hing in grossen Schwaden über den Dächern. Nach einiger Zeit erreichte sie die Kabine und gab sogleich die Nummer ein. Das Telefon klingelte eine Weile, bis jemand abnahm. «Hallo? Wer ist da?» fragte eine so zarte Stimme, dass sie nur von einem Kind sein konnte. Madame Misaki kam sich sehr lächerlich vor und wollte den Hörer auflegen, als die Stimme wieder erklang und fragte: «Suchst du einen Freund?» «Hallo? Ist da jemand?» fragte die Stimme erneut. Madame Misaki sagte zögerlich: «Ja, das tue ich.» Die Stimme fing an zu lachen. Sie hatte schon lange kein so herzhaftes Lachen mehr gehört «Wie heisst du?» sagte die Stimme. «Ich heisse Madame Misaki. Wie heisst du?» erwiderte sie «Ich heisse Mei» sagte die Stimme «Das ist ein schöner Name!» bemerkte sie.
Von da an schlich Madame Misaki jeden Morgen zur Telefonkabine, um mit Mei zu reden, sie trafen sich jedoch nie. Meis Vater war Geschäftsmann und oft auf Reisen unterwegs. Während seiner Abwesenheit passte eine Haushälterin auf Mei auf, da ihre Mutter verstorben war. Mei war erst sechs Jahre alt, aber sehr schlau. So kam es also, dass Madame Misaki und Mei beste Freunde wurden. Madame Misaki wurde jedoch mit der Zeit immer trauriger, da sie nicht mehr lange zu leben hatte. Mei wusste, dass Madame Misaki bald sterben würde. Eines Morgens fragte Mei: «Wieso hast du dich doch entschieden anzurufen?» Daraufhin erwiderte Madame Misaki: «Weil ich nicht von dieser Erde gehen wollte, ohne noch einmal versucht zu haben einen Freund zu finden.» Mei schwieg eine Weile. Dann sprach sie: «Hast du Angst vor dem Tod?» Madame Misaki antwortete: «Nein, ich weiss, dass es meinen Kindern gut geht und mich niemand vermissen wird.» Meis Stimme wurde zitterig: «Wie kannst du so etwas sagen, du verlässt mich, deine beste Freundin!» Dann legte sie auf. Madame Misaki bereute ihre Worte zutiefst. Sie musste wohl bis morgen warten, um mit Mei zu reden. Doch als sie am nächsten Tag anrufen wollte, nahm niemand ab. Genau wie am nächsten Tag. Es vergingen einige Wochen und sie hatte die Hoffnung aufgegeben, dass sie Meis Stimme vor ihrem Tod noch einmal hören würde. Nun war sie wieder allein. Sie wurde immer müder und ihre Spaziergänge wurden immer kürzer. An ihrem letzten Tag lief Madame Misaki aber durch das ganze Dorf. Es war früh am Morgen. Alle schliefen noch. Sie lief so weit, bis sie an der Telefonkabine ankam. Dann nahm sie den Hörer ab und wählte die vertraute Nummer von Mei. Zu ihrem Verwundern nahm Mei tatsächlich ab und sprach: «Es tut mir leid, bitte verzeih mir.» Madame Misaki erklärte: «Mein Liebes, es tut mir leid. Ich werde dich bald verlassen, aber du hast meine letzten Monate mit so viel Freude erfüllt.» Mei fing an zu weinen. Madame Misaki schluckte und lächelte leicht. Dann holte sie tief Luft und sagte: «Wenn du dich jemals einsam fühlen solltest, dann schau in den Himmel und erzähl mir dein Leid, aber auch deine Freude. Ich werde dir zuhören, das verspreche ich.» Das Telefongespräch neigte sich dem Ende zu und Madame Misaki verabschiedete sich mit den Worten. «Danke für alles.» Dann stand sie in der Stille des Morgens. Sie erinnerte sich an all die Gespräche, die sie je geführt hatten. Sie erinnerte sich an Meis weise Worte. Dann lief sie eine letzte Route durch den Park, den Blick nun nicht mehr auf den Boden, sondern auf die Umgebung gerichtet. Sie bemerkte, wie die Bäume sich rot färbten und man den Regen in der Luft riechen konnte. Sie setzte sich auf eine Bank und schloss die Augen. Plötzlich hörte sie in der Ferne ein Lachen. Es war Meis Lachen. Madame Misaki öffnete ihre Augen und sah, wie ein kleines Mädchen tanzte. Sie trug ein rotes Kleid und hatte rote Wangen. Mit jedem Schritt, den sie machte, wirbelten sie Blätter um sich. «Mei ich bin es Madame Misaki» rief sie laut. Das Mädchen blieb stehen und schaute sich um. Sie kam immer näher, bis sie ganz nahe vor Madame Misaki stehen blieb und flüsterte: «Es ist okay, du bist nicht allein.» Eine Träne kullerte Madame Misaki über die Wange und Mei umarmte sie fest. Der Wind wurde immer stärker und sie lächelte.
Es gibt acht Milliarden Menschen auf der Erde. Warum existiert Einsamkeit?
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