Es ist der Albtraum, der immer wieder zurückkehrt, der mich einfach nicht in Ruhe lassen will. Ich ertrage dieses ständige Bild vor meinen Augen nicht.
Überall Blut.
Der Wecker ist mittlerweile verstummt. Ich hieve mich aus dem Bett und vermeide es, auf die leere Hälfte zu blicken. Das Kopfkissen ist unberührt, die Decke ist während der Nacht ganz auf meine Seite gerutscht. Mit langsamen Schritte schleife ich mich ins Badezimmer und blicke in den Spiegel. Ich erstarre. Dann sehe ich sie. Ihr Gesicht so rein, die Haut so blass wie Schnee. Die hellen Augen erschienen mir noch nie so unergründlich und tief. Und bevor ich etwas sagen kann, ist sie weg. Ich sehe mich um, in der Hoffnung sie hinter mir zu erblicken und ihr all meine unbeantworteten Fragen zu stellen.
Wieso?, wäre meine erste Frage.
Der Tag vergeht elendig langsam. Genauso wie die letzten 364 Tage. Nur ist dieser Tag mit einer Trauer und Wut verbunden, die ich nicht länger mit mir rumtragen kann. Wieder Zuhause, blicke ich erneut in ihr Gesicht. Mein Mund ist wie versiegelt. Ich kann ihn nicht öffnen. Erstarrt wie ich bin, bemerke ich fast nicht, wie ihre Gestalt sich aus dem Spiegel hervorhebt und mir schliesslich gegenüber steht. Vollkommen durchschaubar, beinahe unsichtbar. Ihre blassen Lippen verformen sich zu einem kleinen Lächeln. Ihre matte Schönheit ist fehlerlos. Eigentlich perfekt. Zu perfekt. Ich vermisse ihr fröhliches Lachen, ihre funkelnden Augen und die unbeschwerte Laune.
»Wieso?«, flüstere ich, ohne meinen Blick von ihr abzuwenden. Die glatten Haare fallen ihr wie ein geordneter Wasserfall über die Schultern. Nicht wie früher, als sie noch einem Wirbelsturm glichen. Sie schüttelt den Kopf. Jetzt erst erkenne ich diese Wehmut in ihren Augen. Wie eine schwere Last, die sie mit sich trägt. »Wieso hast du mir das angetan?« Meine Stimme wird lauter. »Ich habe mich dafür entschieden.« Ihre Stimme ist monoton, glatt. Ich trete einen Schritt zurück. Sie tritt einen Schritt vor. »Ich habe lange genug gewartet. Nun bin ich bereit.«
»Bereit wofür?« Ihre grossen Augen richten sich auf mich. »Bereit zu gehen. Du musst mich los lassen.« Zu schnell schlägt mein Herz. »Du bist tot!«, rufe ich. »Du hast mich allein gelassen. Du hast dir das Leben genommen!«
Ich sehe keine Reue in ihren Augen. Lediglich diese unendliche Schwere, die mich zu zerreissen scheint.
»Du hältst mich in dieser Welt.« Eine kurze Pause. »Lass mich los.«
Und plötzlich sehe ich sie wieder. Ihre strahlenden Augen, ihr glückliches Lächeln und diese Unbeschwertheit in ihren Zügen. Ich lasse sie los. Ich verdränge die Wut und befreie mich von meinen Sorgen. Sie sieht mir in die Augen, bis sie verblasst und schliesslich nicht mehr zu sehen ist. Einen Teil meiner Wut und Trauer nimmt sie mit, nicht jedoch meine Ungewissheit.
Wieso?