"Lampenfieber" – eine Geschichte von Ladina Cina - Young Circle

«Lampenfieber» – eine Geschichte von Ladina Cina

Member Stories 2022

«Lampenfieber» – eine Geschichte von Ladina Cina

Mein Blick schweift zu meiner Band und ich gebe ihnen ein Zeichen. Während die Melodie sich wie ein Teppich auf den Saal legt, hole ich tief Luft, verdränge dieses nagende Gefühl in meiner Magengegend, gebe mich den Klängen hin und beginne zu singen.

Die Scheinwerfer brennen auf mich nieder. Eine ungewöhnlich ruhige Menge blickt erwartungsvoll zu mir hoch. Ein Schritt. Und noch einer. Mit klopfendem Herzen trete ich zum Mikrofon. Habe ich schon immer solches Lampenfieber gehabt? Ich drohe umzufallen, mir wird heiss und kalt. Mein Herz rast und ich muss unwillkürlich an den einzig anderen Moment denken, bei dem mein Herzschlag ebenso wild war. Warme, braune Augen, die bis in meine Seele blicken. Ich kann schon hören, was er mir zu sagen hat. Dieses Hochgefühl in meiner Brust … Reiss dich gefälligst zusammen Calliope. Harsch hole ich mich in die Realität zurück. Diese Erinnerung hat mir nie Gutes getan. Mein Blick schweift zu meiner Band und ich gebe ihnen ein Zeichen. Während die Melodie sich wie ein Teppich auf den Saal legt, hole ich tief Luft, verdränge dieses nagende Gefühl in meiner Magengegend, gebe mich den Klängen hin und beginne zu singen.

Augenblicklich wird es still im Saal und ich fühle die Aufmerksamkeit von Hunderten von Augenpaaren auf mir. Ich singe von dem Rausch der Liebe, wie man blind wird, wie man fällt, weil man zu sehr gehofft hat. Ich singe vom Schmerz des Aufpralls und von dieser Einsamkeit, weil man nicht mehr erträgt, alle anderen so glücklich zu sehen. Ich singe davon, wie meine Vertrauten keine Lust mehr hatten, sich mein Gejammer anzuhören, wie ich erkannte, dass ich meine Situation nur noch schlimmer machte. Ich singe davon, wie ich alles unterdrückte und versuchte, keine Aufmerksamkeit mehr auf ihn zu richten. Wie ich mich selbst ermahnte, mich nicht zu kümmern, was er von mir denkt, oder nicht über jedes Wort von jedem Gespräch nachzudenken. Ich singe von Hoffnung und Enttäuschung, von seinem Verrat, von dem er nicht einmal wusste, von Illusionen und davon, wie man sich verliert, wenn man sich in Vermutungen ertränkt. Ich singe vom Aufstieg und von der Heilung, von Überwindung. Ich singe von dem, was die Liebe mir angetan hat.

Er hat mich angesehen und die Welt um mich herum verschwand. Er hat meine Blicke erwidert mit solch einer Intensität, dass mir schwindelig wurde. Er hat mit mir gelacht, er hat mit mir gescherzt, er hat so getan, als ob er mir seine Welt eröffnen wollte. Er hat mich gesucht in der Menge, aber ich habe ihn nie gefunden. Er hätte jede haben können und gab trotzdem mir das Gefühl, niemanden sonst zu sehen. Er hat mich verführt und gebrochen, ohne es zu wissen.

Ich habe ihn angeschaut und mein Atem ist stehen geblieben. Ich habe in seine Augen geblickt und bin darin ertrunken. Ich habe mich getraut, mit ihm zu reden und meine Stimme hat nicht versagt. Ich habe jede seiner Handlungen hinterfragt, um sie dann doch falsch zu interpretieren. Ich habe Nächte damit verbracht, über ihn nachzudenken. Ich habe seine Arroganz zu spät gesehen und habe mich selbst in den Ruin getrieben. Ich konnte mich nicht von ihm losreissen und habe damit mein eigenes Todesurteil unterschrieben.

Er trägt keine Schuld.

Tränen treten in meine Augen, aber ich wische sie nicht fort. Dieses Lied, von mir selbst geschrieben, geht mir viel näher, als das es nach all diesen Jahren sollte. Und doch stehe ich heute hier, in diesem Raum, auf dieser Bühne, vor diesen Leuten und meine Stimme bricht, wenn ich an ihn denke. Bin ich immer noch so erbärmlich? Diese Wunden sind doch schon lange geheilt, oder etwa nicht? Mit vor Emotionen triefender Stimme setze ich zum letzten Refrain an.

Die Menge tobt und während sich das Licht der Scheinwerfer dimmt, verlasse ich die Bühne, um einen Schluck zu trinken. Kaum will ich die Wasserflasche an meine Lippen setzen, räuspert sich hinter mir jemand. “Calliope, das war unglaublich”, sagt die warme Stimme. Eine Stimme, wie ich sie trotz allem nie vergessen könnte. Mein Magen zieht sich zusammen und will, wie es sich anfühlt, mein Abendessen wieder zutage fördern. Ich bin noch nie in Ohnmacht gefallen, aber nun bin ich wirklich nahe an einem Zusammenbruch. Unmengen an Gefühlen und Erinnerungen überfluten mich: Wut, Angst, Nervosität, Traurigkeit, Freude, aber da ist auch so viel rasender Zorn. Innerhalb eines Sekundenbruchteils wirble ich herum und blicke ihn an, blicke in seine braunen Augen, die mich nächtelang verfolgt haben, mustere sein zu perfektes Gesicht, fühle mich hundeelend.

“Es ist schön, dich wiederzusehen”, meint er und lächelt. “Ich habe von Freunden erfahren, dass du heute einen Auftritt hast und musste einfach vorbeikommen.” Beim Anblick seines selbstsicheren Grinsens wird mir speiübel und meine Gedanken rasen. Soll ich ihn schlagen? Ihm vor die Füsse spucken? Mich einfach umdrehen und gehen? Auf einmal greift er nach meiner Hand und ich versteife mich. “Weisst du, ich habe dich vermisst Calliope. Dich heute hier zu sehen, hat in mir etwas geweckt. Ich glaube, ich mag dich wirklich.” Für einen Moment starre ich ihn wortlos an, dann entreisse ich ihm meine Hand. “Da kommst du zwölf Jahre zu spät, Vincent. Hör auf mit mir zu spielen”, meine ich nur und bin erstaunt, wie sicher und ruhig meine Stimme klingt. “Wenn du mich nun entschuldigst, ich habe ein Konzert zu beenden” “Lüg dich nicht an Calliope, ich weiss das du mich noch liebst” Vincent versucht mich festzuhalten, aber ich schlage seine Hand weg. “Nein, Vincent.” Ohne einen letzten Blick auf ihn zu verschwenden, drehe ich mich um, gehe zurück auf die Bühne und fühle dabei kein bisschen Reue.

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