"Kaltgetsellt" - Eine Geschichte von Louisa Kandt - Young Circle

«Kaltgetsellt» – Eine Geschichte von Louisa Kandt

Member Stories 2023

«Kaltgetsellt» – Eine Geschichte von Louisa Kandt

In einer Welt des Schweigens und der Bewegungslosigkeit, gefangen in ihrem eigenen Körper, lauscht Angela den Geräuschen und Gedanken in ihrem Krankenhauszimmer. Ein mysteriöser Besucher sorgt für Rätsel und Unbehagen, denn er ist der Grund für Angelas tragischen Zustand und kehrt regelmässig zurück.

Hast du schon einmal darüber nachgedacht, wie du deine Hand bewegen kannst? Oder deine Finger? Wie macht man das? Ich weiss es nie, und ich dachte auch nie, dass ich jemals über so etwas nachdenken müsste. Doch ich habe nicht nur vergessen wie all diese Dinge funktionieren. Ich kann es nicht mehr. Meine Hände kann ich nicht mehr bewegen, meine Augen nicht öffnen. Aber das ist nicht das Schlimmste, nichtmal im Ansatz. Das Grausamste an dem ganzen ist, dass ich trotzdem alles höre. Jeden einzelnen Ton, der hier im Krankenhaus erklingt, jedes Wort, das ausgesprochen wird. Auch, wenn nichts, was ich hier höre, je positiv ist. In meinem Krankenhaus Zimmer ist jeder Satz entweder in Ertäuschung, medizinischer Geschäftigkeit oder einfach nur Trauer. Die medizinische Geschäftigkeit stammt natürlich von den Ärzten, Ärtztinnen und deren Assistenten. Ich kann schon fast spüren, wie sie um mein Bett herumwuseln und mir wieder neue Nadeln in die Arme stecken. Ich hasse Nadeln, vorallem wenn sie in mir in die Haut gestochen werden, ohne dass ich mich wehren kann. Entäuschung und Trauer natürlich von meinen Angehörigen, auch wenn mich nicht oft jemand besucht. Manchmal meine Mutter oder mein Vater, eine Freundin oder ein Arbeitskollege. Sie können Gehirnströme messen, wissen wann ich wach bin. Doch da ist noch der Mann. Der fremde Mann, der öfter bei mir ist als jeder andere. Fast jeden Tag kommt er zu mir. Manchmal höre ich, dass er etwas auf den Tisch stellt. Er erzählt mir dann oft, welche Blumen er mir heute mitgebracht hat. Oftmals sind es gelbe Tulpen, zumindest sagt er das. Jeden Tag erzählt er den Krankenschwestern etwas Neues. Mal gibt er sich als mein Mann aus, manchmal behauptet er mein Bruder zu sein. Nichts davon stimmt, und trotzdem weiss ich genau, wer er ist. Eigentlich stimmt nicht was ich vorhin gesagt habe, er ist kein Fremder. Ich weiss, wer er ist, schliesslich ist es sein Gesicht, dass ich immer wieder vor mir sehe. Wenn ich aufwache und wenn ich einschlafe, Tag ein, Tag aus. Und jetzt gerade höre ich ihn wieder kommen. Seine Schritte sind leicht, es ähnelt einem Trippeln.

Tipp-Tapp, Tipp-Tipp-Tapp. Ich weiss wann er es ist der den Raum betritt noch bevor er die Tür öffnet. Alle anderen sind traurig, wenn sie hören, dass ich keine Fortschritte gemacht habe. Das ich zwar denke, aber nicht mit ihnen kommunizieren kann. Doch bei ihm… Ich habe das Gefühl es freut ihn, er muss sein Kichern unterdrücken. Seine Schritte kommen näher, werden lauter. Tipp-Tapp, Tipp-Tipp-Tapp. Die Tür öffnet sich, es quietscht. Seine Schuhe rutschen über den kalten Boden, er trägt Lackschuhe. Heute stellt er nichts auf den Tisch, sondern kommt direkt ans Bett. Natürlich nachdem er wie immer kontrolliert hat, ob die Tür richtig geschlossen ist. Nun steht er so dicht vor mir, dass ich hören kann, wie er atmet. Das ist mir zu nah. Er soll aufhören. Doch natürlich kann ich ihm das nicht sagen oder irgendwie anders mitteilen. Der Mann legt seine Hand auf meinen Kopf, was tut er da? Moment… Er streichelt mir über den Kopf. «Meine Angela. Meine kleine, süsse Angela. Ich habe erfahren, dass du uns anscheinend verstehen kannst. Stimmt das Angela? Hm? Weisst du noch wer ich bin?» Natürlich gebe ich keine Antwort. Wie soll ich auch? Aber ja, ich weiss noch wer er ist. Auch er bemerkt seinen Fehler und fängt an, dröhnend zu lachen. Es fährt mir durch Leib und Seele. «Achso, hab ich vergessen. Du armer Schatz kannst ja nicht antworten. Tut mir wirklich leid das ich der Grund dafür bin.» Wahrscheinlich lächelt er gerade. Und es stimmt, er ist der Grund. Vor fünf Monaten hatte er mich angefahren.

Silberner Audi R8. Es ist der Grund, wieso ich mich nicht mehr bewegen kann. Dieser Unfall ist der Grund wieso ich weiss, dass er lächelt. Weil er gottverdammt nochmal gelächelt hat, als er mich angefahren hat. Ich konnte aufschnappen was die Polizisten den Ärzten erzählt haben. Unfall mit Fahrerflucht. Sie haben ihn nicht ausfindig machen können. Er ist damit davongekommen, obwohl er mir damit die Chance auf ein Leben genommen hat. Aber wieso geht er dann das Risiko ein doch noch erwischt zu werden, indem er jeden Tag wiederkommst? Das weiss ich nicht. Doch auch ich kann Schlussfolgern, selbst wenn alles andere an meinem Körper nicht mehr funktioniert.

Ich war kein Zufall.

Es war Absicht.

Er wollte mich anfahren.

Er hat gelächelt.

Noch einmal bückt er sich zu mir hinab, nachdem er so untypisch für sich still war.

«Na dich habe ich dann wohl führ’s erste kaltgestellt.»

Und ich weiss, dass er lächelt.

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