"Im Wald" - Eine Geschichte von Kiana Imfeld - Young Circle

«Im Wald» – Eine Geschichte von Kiana Imfeld

Member Stories 2024

«Im Wald» – Eine Geschichte von Kiana Imfeld

Eine Person erinnert sich an ihre tiefe Verbindung mit einem Wald, in dem sie einst Zeit mit ihrer verstorbenen Mutter verbrachte. Beim Spaziergang durch die Natur spürt sie eine geheimnisvolle Harmonie und erkennt, dass die Stimme, die sie hört, ihre eigene ist, verwoben mit den Stimmen all derer, die den Wald vor ihr durchschritten haben. Jahre später kehrt sie mit ihrer Tochter zurück und erlebt, wie sich der Kreislauf des Lebens fortsetzt, bis schliesslich der Moment kommt, in dem sie sich endgültig mit dem Wald und der Erde vereint.

Mein Vater hatte mir immer gesagt, wie ich und meine Mutter oft in diesen Wald gekommen waren. Stunden hier verbracht hatten. Er hätte es nie richtig verstanden, sagte er. Später, als ich älter war, lange nach dem es sie nur noch in unserer Erinnerung gab, lief ich gerne durch die Wälder. Ich glaubte sie zu spüren und dachte an die Erzählungen meines Vaters, doch ich konnte mich kaum noch an sie erinnern. Ich war damals so klein gewesen.

Es war an einem milden Tag Ende Sommer als ich durch den Wald ging. Die Blätter um mich rauschten im Wind, ein kleiner Bach plätscherte sanft zu meiner linken Seite und die Vögel pfiffen ihre Melodie. Langsam, schleichend, ja, fast unbemerkt mischte sich eine neue Stimme unter die ihren. Sie pfiff und sang und schien immer genau dort zu sein wo gerade ein Vogel versäumt hatte seinem Ton nachzugehen. Verblüfft und verzückt sah ich mich in meiner Umgebung um. Wer oder was war es, das hier so liebliche Töne von sich gab, die beinahe mit der Natur zu verschmelzen schienen? Meine Augen sahen sich in dem sanftmütigen Wald um. Es war früher Abend und das Licht fiel in einzelnen, zielstrebig und doch ruhig wirkenden Strahlen auf den moosigen Waldboden. Sie wirkten so gewillt und lebendig. Hier und da raschelte es unter einem Blatt und ein kleines Mäuschen oder ein lustiger Vogel machten sich auf ihren Weg – vielleicht auf der Suche nach Essen, um hungrige Mäuler zu stopfen. Hier und da sprossen neue Pflänzchen aus dem Boden, bereit gross und stark wie ihre Mütter zu werden. Des Baches Wasser wirkte kristallklar und um ihn zierten sich kleine wilde Erdbeeren, die nach den vereinzelten Sonnenstrahlen zu strebten. Doch in all dieser Schönheit konnte ich nichts ausmachen, was ich mit den Vögeln zu singen vermutete.

Da wurde mein Atem langsam ruhiger und in mir wurde alles still. Alles wurde still und gleichzeitig spürte ich plötzlich unzählige verschieden Eindrücke auf einmal. Mit einem Mal atmete ich mit dem Wind. Trieb mit dem Fluss. Rannte mit den Insekten und Tieren. Flog ich mit den Vögeln – Und da begriff ich, dass diese Stimme, diese Stimme, die im kompletten Einklang mit der Umgebung schien, meine Stimme gewesen war. Es war meine Stimme gewesen, aber auch genauso die Stimme aller anderen, die vor mir und auch nach mir diesen Wald beschritten hatten. Ich spürte so viel Leben in meinem Körper, wie ich es noch nie zuvor getan hatte und auch die Liebe war da, ich spürte sie deutlich und nah.

Allmählich wurde ich mir allem bewusst was mich umgab. Ich spürte all die verschiedenen Lebensformen aufatmen und sich zu einem einzigen vollkommenen Bild erschliessen. Auch fühlte ich meinen eigenen Körper jetzt stärker. Mein Befinden war gestärkt: Ich trug neues Leben in mir. Mit jeder Minute wuchs sie heran und ihre Präsenz vermittelte mir ein Gefühl der Wärme, der Geborgenheit. Meine Hand lag bedächtig auf meinem fast unmerklich gerundeten Bauch und all das Leben, das mich umgab, floss durch unsere Körper und kräftigte uns. Sie würde es eines Tages auch fühlen, wahrscheinlich tat sie das schon jetzt.

In den nächsten Jahren kam ich mit ihr oft hierher. Mit ihr, meiner Tochter. Sie fühlte es tatsächlich schon von Anfang an. Zusammen mit den Bäumen und mit dem Wald – zusammen mit der Welt wuchs sie. Wuchs, bis auch sie neues Leben in sich trug und wir eines Tages zu dritt im Wald standen.

Es war an einem verschneiten Wintertag als ich das letzte Mal in den Wald kam, um mich von der Erde umfliessen zu lassen. Der Morgen lag still und ruhig da und unsere Schritte tönten gedämpft durch den mit Schnee bedeckten Waldboden. Die Luft war eiskalt und auf dem Bächlein hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet, in die gerade ein kleiner Vogel eifrig ein Loch zu picken versuchte. An diesem letzten Morgen waren unsere Glieder steif von der Kälte und auch die Sträucher, Blumen und Bäume waren mit einer dünnen Reifschicht bedeckt und standen regungslos in der windstillen Dämmerung. Ich schloss mich mit ihnen zusammen und weckte sie behutsam aus ihrem leichten Winterschlaf. Ich war mir sicher auch sie spürten es. Wie eine weitere Schicht Eis lag eine Stimmung der Endgültigkeit, des Abschiedes über uns, schloss uns noch enger ein, wie unter einer gemeinsamen Decke und liess uns als Etwas Vollkommenes zurück. Auch meine Mädchen waren mit mir unter dieser Decke der Endgültigkeit und auf ihren Gesichtern lagen stumme traurige Lächeln.

Ein letztes Mal liess mich vom Wind tragen. Weit weg trug er mich, bis sich mein Herzschlag langsam mit seinem Rhythmus vermischte und mich nichts mehr auf dem Boden hielt. Sie alle, alles Leben des Waldes verabschiedete sich von mir.

Als die Sonne an diesem Tag schon weit unten am Horizont stand und einen rosigen Schimmer auf die verschneite Landschaft gab, begruben sie mich unter dem grössten, knorrigsten, ältesten Baum im Wald und gaben mich so an die Erde zurück. Es musste ein bittersüsser Moment für sie gewesen sein.

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