Ein blumiger Duft erfüllt meine Sinne und besänftigt meinen stolpernden Herzschlag. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie oft ich mir diesen Moment vor Augen geführt habe. Wie oft ich abends auf meinem Bett lag, die Decke am Fussende zusammengeknüllt und die nächtliche Sommerbrise, die durch das Fenster über mich fiel. Diese nachdenkliche Ruhe. Als ich auf die Decke hinaufschaute und das Zirpen der Grillen meine Gedanken verstummen liess. Wie ich mir dabei eine Zukunft ausmalte, in der Hoffnung, dass es nach ihm eine gäbe. Ein Nach-ihm.
Wie ich es wagte, in meinen Träumen zu fliehen, bevor die Erinnerungen den letzten Funken Licht aus mir verdrängten. Bevor die Vergangenheit in meine Gedanken eindrang und melancholische Töne spielte. Mit jeder Note, jedem Ton verlor ich mich etwas mehr in ihnen. Diese alte Version von mir mit ihnen fortgetragen.
Früher war ich sensibel. Eine Eigenschaft, die ich zuvor immer als Schwäche sah. Die Eigenschaft, Trauer und Schmerz, Freude und Euphorie, Wut und Verzweiflung so intensiv zu fühlen, dass ich sie mit jeder Faser meines Körpers wahrnahm. Vom Haaransatz bis hin zu den Zehenspitzen. Als wäre mein Herz für einen Augenblick in der Lage, alle Emotionen gleichzeitig zu spüren.
Hin und wieder erinnere ich mich daran, wie lebendig alles war. Wie sehr ich das Gefühl genoss, mit meinen Freunden auf Konzerte zu gehen. Oder wie enttäuscht ich war, als ich von einem schlechten Testergebnis erfuhr und ich mich anschliessend wieder besser fühlte, als meine Mama und ich gemeinsam Kaffee trinken gingen.
Ich hatte ein sensibles Herz. Doch mit der Zeit, mit der Trauer, der Wut und der Verzweiflung, die es heimsuchten, verlor es die Eigenschaft, alles zu fühlen. Eine Taubheit ergriff mich. Jeder dumpfe Schlag, jede Einkerbung weniger schmerzvoll als diejenige zuvor. Bis der Schmerz so vertraut auf mich wirkte, dass er stumm blieb. Ich mir wünschte, ihn hören zu können. So weit, dass ich mich entschied, gegen die Stille anzukämpfen.
Der Wind peitscht gegen meine Schläfe. Ich blicke auf die umwerfende Kulisse jenseits des Autofensters und sehe zu, wie das Rosa der vorbeiziehenden Magnolien in das schemenhafte, glänzende rosa Haar übergeht. Ein stechender Schmerz erfasst meinen Brustkorb. Die Farben verschwimmen ineinander. Sanfte Musik strömt aus dem Radio und vermischt sich mit dem Rauschen des Windes. Ich fixiere meine aneinanderreibenden Hände, in der Versuchung, die Bilder in meinem Kopf auszublenden. Doch sie ziehen an mir vorbei:
Der Monat vor den Sommerferien.
Als er mir zuredete, uns gemeinsam rosafarbene Strähnen zu färben, sollte ich die Zusage für das College hier in Charleston erhalten. Ein Anblick, den ich mir keinesfalls entgehen lassen wollte. Und das wusste er. Er wusste, dass rosa meine Lieblingsfarbe war. Wie sehr ich sein weiches Haar mochte. Er wusste, wie wichtig mir Charleston war. Wie es ihm gelingen würde, mich aufzumuntern.
Wir hatten gefeiert und draussen dämmerte es bereits. Schmunzelnd, vor lauter Glücksgefühlen, fuhr ich uns von der Party nach Hause. Ich fand keinen Weg, mich an dem Rosa sattzusehen. Wir hatten unser Versprechen gehalten und in seinen tiefgrünen Augen spiegelte sich der Stolz, den nicht mal ich so stark für mich empfand. Das übliche Grübchen erschien neben seinem rechten Mundwinkel und sein Blick bohrte sich tief in meinen. In einer Ekstase gefangen, von der sich keiner von uns lösen wollte. Vor Angst, einen Atemzug davon zu verpassen.
Bevor ich es eben doch tat.
Ein letzter Herzschlag.
Scheinwerferlichter trübten meine Sicht.
Und bevor ich wusste, wie es um mich geschah, fühlte ich das taube Gefühl in meinem Körper und den brennenden Schmerz auf meiner Haut. Ein dumpfes Geräusch in meinen Ohren. Meine schweren Augenlider. Ich öffnete sie. Ein einziges Mal. Dichter Rauch erschwerte mir die Sicht.
Seine tiefgrünen Augen bohrten sich nicht in die meinen. Sein Grübchen, das ich so sehr mochte, war nicht mehr zu erkennen. Sein rosa gefärbtes Haar – in Rot getränkt.
Ich liess meine Augen zufallen.
In den Tagen danach war es schwer, die Stille zu ertragen. Ich lief ziellos durch die Strassen, die Welt um mich herum ging weiter, als wäre nichts geschehen. Für einen Augenblick schien es möglich, so zu tun, als ob es das tatsächlich wäre. Doch ein verräterischer Stich erfasste meinen Brustkorb, da die Erinnerung an dieses seidig warme Haar einst mein liebster Augenblick war.
«In fünf Minuten sind wir da», teilt mir Lewis mit und schenkt mir ein freundliches Lächeln. Draussen erleuchten die sanften Sonnenstrahlen die weiten Alleen, während die vereinzelten Wolken über uns in Pinselstrichen erscheinen. Ich liebte den Gedanken, die nächsten Jahre hier zu leben. Die Kombination von Blütenstaub und Meersalz in der Luft. Nicht weit von hier liegt der Hafen, an dem ich die Abende nach dem College ausschöpfen würde.
Es fühlte sich neu an, fast wie ein frischer Start, und für einen Moment spürte ich einen Anflug von Leichtigkeit.
Das Uber hält an und ich verabschiede mich von Lewis, bevor ich letztendlich aussteige. Auf der linken Strassenseite erstreckt sich eine Reihe bunter Wohnungen und ich spüre, wie mir die kalifornische Brise durch meine rosablonden Locken weht. Mein Blick richtet sich auf ein Gebäude mit gelber Fassade, vor dem sich ein blühender Kirschbaum erstreckt. Ein kleiner Vorgarten führt in die Wohngemeinschaft. Auf einem kleinen Gartentisch platziert, steht eine weisse Vase mit pfirsichfarbenen Lilien, die das Zitronengelb im Hintergrund perfekt ergänzen.
Ein leichtes Grinsen spielt um meinen rechten Mundwinkel.
Es fühlte sich gut an, endlich anzukommen. Dem Wendepunkt entgegenzutreten. Zu verstehen, dass mir das Leben so viel gibt und es nicht die dunklen Momente sind, die es definieren müssen. Dass der Unfall eine Narbe auf meinem Herzen hinterliess, doch dieses weiterschlagen würde.
Ich weiss, dass er es nie gesehen hat. Dass er nie erlebte, wie ich meine Ängste bewältigte. Wie ich an seine Worte dachte, um dies zu erreichen. Dass er der Einzige war, dem ich von meinen Zielen erzählte und der Einzige ist, der nicht zusah, als ich ankam.
Doch er würde immer ein Teil von mir sein.
Ein Teil dessen, was mich vorantreibt.
Ein Teil von dem, was mich heute hier sein lässt.
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