Tik-Tak
Tik-Tak
Tik-Tak
Die Uhr zählt jede Sekunde. Das Geräusch übertönt die monotone Stimme des Lehrers.
Tik-Tak
Es ist, als würde jede Sekunde zu einer Minute und jede Minute zu einer Stunde werden.
Tik-Tak
Draussen ist es grau. Es regnet, am Himmel ist eine einzige Wolkendecke zu sehen. Gelangweilt wandert mein Blick wieder nach vorne, zur Wandtafel.
Tik-Tak
Ich fühle mich, als würden die Wände immer näherkommen, es ist erdrückend. Noch nie habe ich etwas Illegales getan und doch bin ich eingesperrt. Warum bin ich hier?
Tik-Tak
Noch fünf Minuten. Noch fünf Minuten muss ich das ertragen. Ich nehme den Stift und drehe ihn in den Fingern hin und her.
Tik-Tak
Ich bin auch grau. Keine Freude, keine Trauer, keine Liebe, kein Hass. Ich fühle nichts.
Ich bin taub, leer, stumpf. Was ist aus dem energischen, lachenden Mädchen geworden, dass ich einmal war?
Tik-Tak
Was würde ich nur alles dafür tun, dass sich etwas ändert? Nichts wünsche ich mir mehr, nichts ist unerreichbarer. Bin ich dazu verdammt, für immer so zu leben?
Tik-Tak
Es klingelt. Ich packe meine Sachen zusammen und stürme aus dem Klassenzimmer, aus dem Schulhaus. Erleichtert atme ich die frische Luft ein. Die Regentropfen prasseln auf mich nieder, wie kleine, eiskalte Küsse. Als würde ich vom Tod persönlich berührt werden.
Erleichtert begebe ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle, doch ich gehe nicht unter das Dach. Ich will den Regen spüren, riechen. So kann ich wenigstens etwas fühlen, auch wenn es nur kalte Nässe ist. Ich schliesse die Augen und gebe mich dem Gefühl hin.
,,Entschuldige?»
Eine Stimme holt mich aus meinen Tagträumereien, vielleicht sind es auch Alpträume. Ich blicke in warme Augen, die sich nicht ganz entscheiden können, welche Farbe sie haben wollen.
Ich blicke in ein sommersprossiges Gesicht, weit davon entfernt, perfekt zu sein, und doch so unglaublich schön. Ja, mit einem anderen Wort lässt sich der junge Mann vor mir nicht beschreiben. Er ist einfach schön.
,,Möchtest du meine Jacke? Du solltest auf dich aufpassen. Du siehst aus, als wäre dir eiskalt.»
Er hält mir die Jacke hin. Ich schenke ihm ein halbes Lächeln. ,,Ich stehe absichtlich hier. Ich mag das Gefühl von Regen auf der Haut. Ausserdem ist es sehr warm. Aber ich danke dir für das Angebot.» Er nimmt die Jacke zurück und lächelt mich an. ,,Ich denke nicht, dass die Temperatur der Grund ist für die Kälte, die du fühlst.» Ich will etwas erwidern, doch der Bus kommt und ich muss einsteigen. Als ich nachher durch das Fenster blicke, ist er schon nicht mehr dort. Nur noch der Himmel, dessen blau langsam wieder durch die Wolken durchschimmert, ist noch da.
Die nächsten Tage sucht mein Blick ihn, immer und immer wieder, egal wo ich bin, egal wo ich hinblicke, doch er ist nirgendwo aufzufinden. ,,Warum bist du so abgelenkt?» Mein wandernder Blick findet meine beste Freundin. ,,Ich habe jemanden getroffen . . . Ich suche ihn.»
,,Regenmädchen!» Diese Stimme. Das ist er ganz eindeutig. Ich drehe mich um und erkenne erfreut das sommersprossige Gesicht. ,,Komm mal her!» Ich zögere zuerst, doch ich möchte zu ihm nach vorne gehen. Mit einem Blick zurück lasse ich meine Freundin hinter mir stehen und gehe auf ihn zu. Er lächelt mich an. ,,Magst du Pferde?»
,,Ich – Wie bitte?»
,,Ob du Pferde magst.»
,,Klar. Aber warum meinst du?»
,,Ich habe ein zweites Pferd bekommen und wir suchen noch eine Reitbeteiligung für Eines davon. Hast du Lust?» Irritiert blicke ich ihn an. Ist das sein Ernst?
,,Warum ausgerechnet ich?» Er grinst nur.
,,Das wirst du merken, sobald du ein wenig Zeit mit ihr verbringst. Wenn du kommen möchtest, dann komm doch nach Schulschluss hierher. Ich warte auf dich.»
In dem Moment klingelt es. Ich blickte zur Uhr, dann wieder zurück und wie das letzte Mal auch schon, ist er vom einen Moment auf den Anderen einfach verschwunden.
Ich sitze neben ihm im Auto. Der Regenschauer der letzten paar Tage ist vorbei, im Radio läuft Musik, klassische Musik, Klaviermusik. ,,Ist das Chopins Nocturne in Es-Dur?» Er nickt lächelnd. ,,Magst du klassische Musik?» Ich überlege. Mag ich klassische Musik? ,,Ich mag Klaviere.» Dies bringt ihn zum Lachen.
,,Ich kenne deinen Namen nicht.» Merke ich dann. ,,Doch tust du.» Verwirrt sehe ich ihn an, doch er führt diese Aussage nicht näher aus und der Rest der Fahrt verläuft schweigend.
Er zeigt mir den Stall ohne ein Wort, es ist ein Offenstall. Erst als wir die beiden Pferde rausholen redet er wieder. ,,Kannst du reiten?»
,,Ich habe nicht lange Unterricht genommen, aber ja kann ich.» Er hält mir Halfter und Strick hin. ,,Du musst dich nicht erklären. Du bist mir keine Rechenschaft schuldig.» Er zeigt auf ein mittelgrosses, rotes Pferd. ,,Diese Fuchsstute ist heute dein Begleiter. Sie heisst Saphira.» Ich schnaube belustigt. ,,Du nennst ein rotes Pferd Saphira?»
,,Sie strahlt dieselbe Ruhe aus wie ein Saphir.» In aller Seelenruhe holt er seine Putzkiste und öffnet sie.
,,Was willst du machen?»
,,Einen Ausritt, ohne Sattel. Zum kennenlernen.»
,,Ich kann das nicht. Ich habe das noch nie gemacht.»
,,Woher willst du dann wissen, dass du es nicht kannst?»
Darauf kann ich nichts erwidern, zumindest nichts Kluges. Ich putze die Stute, setze mich mit seiner Hilfe auf ihren Rücken und wir reiten los. ,,Immer schön der Bewegung folgen. Sie ist deine Verbindung zu Mutter Erde, du bist ihre Verbindung zum Himmel. Wenn du reitest, seid ihr eins.» Wir reiten über Hügel und durch Wälder, ich sehe die Landschaft vor mir und dieses Mal sehe ich sie richtig. Sie ist wunderschön. Dann kommen wir zu einer Galoppstrecke und Saphira rennt los. Ich folge ihren Bewegungen mit der Hüfte, strecke die Arme aus und lache, losgelöst von meinen Sorgen. Ich fühle mich verbunden mit ihr, mit unserem ursprünglichsten Sein. Es fühlt sich viel grösser an wie fliegen. Ich fühle mich frei, geborgen, sicher.
Dann öffne ich meine Augen.
Das Ticken der Uhr ist dasselbe.
Der Raum ist derselbe.
Doch nichts ist mehr grau. Alles ist bunt, farbenfroh, hell. Die Sonne scheint und wärmt meine Haut.
Alles, was mich umgibt ist gleich, doch ich bin es nicht mehr. Ich habe geträumt, ich habe Freiheit gesehen, gefühlt.
Was mich zurückgehalten hat, sind keine Institutionen gewesen, keine Lehrer.
Es war alles in meinem Kopf. Dort fängt meine Freiheit an, dort hört sie auf.
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