Ich bin völlig ausser Atem, als ich den langen Spitalflur entlanghaste und ihr Zimmer suche. Als ich vor einer halben Stunde den Anruf erhielt, dass sie von einem Auto angefahren worden sei und sich gerade in Untersuchung befinde, habe ich alles stehen und liegen gelassen, und bin sofort hergekommen. Es ist mir egal, dass ich dadurch womöglich wieder Ärger mit meinem Chef bekomme, ich muss mich jetzt einfach vergewissern, dass es ihr gut geht.
Obwohl wir uns noch nicht sehr lange kennen, habe ich mich verdammt schnell in Sophia verliebt. Sophia redet sehr viel, und ich liebe es, wie sie mir manchmal stundenlang Geschichten über ihre kleine Schwester Marie erzählt, die sie offensichtlich abgöttisch liebt. An manchen Abenden liegen wir einfach Arm in Arm in meinem grossen Bett, und ich lausche ihrer wunderschönen sanften Stimme.
Sie ist diesen Sommer mit der Schule fertig geworden und im Moment auf der Suche nach ihrem grossen Traum. Sie will keinen Job, weil ihr das «die Perspektiven verdirbt». Ich glaube, am liebsten würde sie ohne Geld und ohne Plan aufbrechen, und sich irgendwo ein Leben aufbauen. Aber sie bringt es nicht übers Herz, mich und ihre Familie zu verlassen, um die Welt zu bereisen. Sobald ich meine Lehre abgeschlossen habe, bereise ich mit ihr die Welt. Denn ich will nichts lieber, als ihr dabei behilflich zu sein, ihren grossen Traum zu finden.
Ich habe schon viel über Sophias Familie gehört, aber aus irgendeinem Grund habe ich sie noch nie kennengelernt. Ich war in diesen ganzen drei Monaten kein einziges Mal bei ihr zuhause. Was mir erst jetzt merkwürdig vorkommt.
Ich eile an einer Gruppe von Ärzten und Pflegern vorbei, die gerade über etwas ernstes zu reden scheinen. Im Vorbeigehen schnappe ich einige Gesprächsfetzen auf.
«Unglaublich, dass sie innerhalb eines halben Jahres zwei Autounfälle überlebt hat», sagt ein ziemlich jung wirkender Pfleger.
Ich stutze, denn ich weiss nichts davon, dass Sophia vor so kurzem bereits einen Unfall hatte. Aber dann überlege ich, dass bestimmt viele Patienten in diesem Spital aufgrund eines Autounfalls hier sind.
«Und das, wo doch ihre ganze Familie im letzten Unfall verstorben ist.», erwidert ein etwas älterer Arzt.
Sie reden definitiv nicht über Sophia. Ich lache beinahe laut auf, so absurd ist der Gedanke, dass ihre Familie bereits verstorben sein könnte. Ich denke mal, das hätte ich mitbekommen.
An der nächsten Ecke biege ich links ab, und dann stehe ich endlich vor ihrem Zimmer. Doch bevor ich die Tür aufmache, zögere ich plötzlich. Eine eisige Angst überrollt mich aus dem nichts. Was wenn sie es nicht geschafft hat? Was, wenn die letzten Worte, die ich zu ihr Gesagt habe «wir sehen uns morgen, du stinkender Muffelkopf.» sind? Auf einmal kommt mir diese kindische Wortwahl sehr unpassend vor. Sie hatte lediglich etwas schlechte Laune gestern Abend, weil Ich keine Schokolade zuhause aufbewahre, obwohl sie gerade ihre Menstruation hat. Ich könnte mir nie verzeihen, wenn das die letzten Worte wären, die sie von mir gehört hat. Anstelle von «ich liebe dich». Ich hätte ihr jeden Tag sagen sollen, wie sehr ich sie liebe.
Ich stehe noch immer vor ihrem Zimmer, ich habe einfach zu grosse Angst davor, was mich hinter dieser Tür erwartet. Doch schliesslich gebe ich mir einen Ruck. Gerade will ich die Türklinke runterdrücken, da schwingt die Tür auf und eine Ärztin kommt heraus. Bevor ich reagiere, nimmt sie sanft mein Handgelenk und führt mich ein wenig weg von der Tür. Sie muss gewusst haben, wer ich bin, denn sie sagt mit sanfter Stimme:
«Es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Sie hat einige Prellungen und Schürfwunden davongetragen, aber sie hat grosses Glück, dass ihr Kopf nichts abbekommen hat. Ich denke nicht, dass sie noch eine Kopfverletzung nach so kurzer Zeit überlebt hätte. Sie ist bei Bewusstsein und scheint erstaunlicherweise sehr fröhlich. Aber», sie unterbricht sich kurz und schaut mich mit einem bedeutungsvollen Blick an. « Sei vorsichtig mit ihr, sie sagt, dass ihre Familie zu Besuch ist».
Noch bevor ich etwas erwidern kann, ist sie um die nächste Ecke verschwunden. Zuerst bin ich unendlich erleichtert, dass sie überlebt hat, ich beginne fast zu weinen. Spätestens wenn ich in ihren Armen liege, werde ich das womöglich tun. Doch dann bin ich verwirrt, als mir klar wird, was die Ärztin noch gesagt hat. Was meinte sie damit, dass sie eine zweite Kopfverletzung nicht überlebt hätte? Wann hatte sie die Erste? Und wieso sollte ich vorsichtig sein, nur weil ihre Familie zu Besuch ist? Doch für den Moment schiebe ich diese Gedanken beiseite und betrete endlich Sophias Zimmer.
Als ich sie in dem Spitalbett liegen sehe, mit einem strahlenden Lächeln, obwohl sie in mehrere Bandagen eingewickelt ist, bricht mein Damm. Ich stolpere auf sie zu und umarme sie stürmisch, aber dennoch vorsichtig, während ich wie verrückt weine und mein Gesicht in ihrem T-Shirt vergrabe.
«Hey Ben, es geht mir gut, aber pass doch auf, dass du nicht meine Schwester umrennst», murmelt sie in mein Haar. Ich schaue verwirrt zu ihr hoch, ich habe niemand anderen in dem Raum gesehen. Auch als ich mich jetzt umschaue, ist da keiner ausser uns.
«Wo ist sie denn?», frage ich, und sie lacht leise.
«Da steht sie doch, Dummerchen!» Sie deutet auf das Fussende ihres Bettes.
Da ist niemand.
«Und das sind meine Eltern.» Sie deutet zum Fenster.
Auch da steht niemand.
Und plötzlich verstehe ich, was die Ärztin vorhin gemeint hat. Aber ihre Familie ist nicht zu Besuch, denn ihre Familie, ihre so geliebte Schwester, existiert nur noch in ihrem Kopf. Und als ich das realisiere, bricht meine ganze Welt zusammen. Ich weiche von Sophia zurück, als hätte ich mich an ihr verbrannt. Rückwärts taste ich mich bis zur Tür und sobald ich sie aufbekomme, drehe ich mich um und renne so schnell wie möglich davon. Das letzte, was ich höre, ist Sophia, die verwirrt und verzweifelt meinen Namen ruft. Dann fühle ich die Ohnmacht über mich rollen und alles wird schwarz.
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