"Ich liebe dich auch" - Eine Geschichte von Anouk Koch - Young Circle

«Ich liebe dich auch» – Eine Geschichte von Anouk Koch

Member Stories 2024

«Ich liebe dich auch» – Eine Geschichte von Anouk Koch

Die Geschichte beschreibt eine Person, die sich seit ihrer Kindheit gezwungen fühlt, ihrem Vater „Ich liebe dich auch“ zu sagen, obwohl sie es nicht wirklich empfindet. Diese Lüge hat der Person geholfen, sich aus einer unangenehmen und bedrängenden Situation zu befreien. Obwohl sie die Notwendigkeit versteht, diese Worte zu verwenden, fühlt sie sich gleichzeitig schuldig und sehnt sich danach, eines Tages die Wahrheit sagen zu können.

Ich habe mir geschworen, dass ich diese Lüge nie aussprechen würde. Dennoch ist sie Bestandteil meines Lebens. Mit sieben Jahren kam sie mir das erste Mal über die Lippen. Seitdem begleitet sie mich fast jeden Tag.

Wie könnte ich sie nicht benutzen, denn diese Lüge hilft mir. Sie sorgt für meine Sicherheit. So jedenfalls versuche ich mich vor mir selbst zu rechtfertigen. Mit sieben hatte ich Angst vor der Welt. Angst vor ihm. Und ich musste etwas finden, das mich retten würde. Er wollte mich an ihn binden, wollte meine Anerkennung und meine Liebe. Und er schloss mich in seine Arme und ließ mich nicht los, bis er die Worte bekam, die er wollte. „Ich liebe dich auch» und schon übten seine Arme weniger Kraft aus und seine Berührungen wurden weniger aufdringlich.

So einfach kann es sein, obwohl ich nie jemand sein wollte, der diese Lüge ausspricht. Genauso wie ich niemand sein wollte, der nicht die Kraft hat, der Person entgegenzutreten, die angelogen werden muss. Und da war auch immer ein leiser Zweifel. Vielleicht liebte ich ihn ja doch. Schließlich wäre das, das Normalste in der Welt.

Abends, wenn die Sonne sich hinter den Bergen und den hohen Tälern versteckt, kommt er auf mich zu: „Ich werde dich vermissen, wenn du dich gegen mich entscheidest, ach, ich liebe dich doch so sehr.» Seine Worte fliegen in den Raum, seine Arme gleiten um meine Hüfte, seine Hände halten mich fest. Leise, ohne dass es außer ihm jemand hören könnte, antworte ich: „Ich liebe dich auch.»

Wie ein Gegengift fliegen die Worte von meinen Lippen an meine Hüfte, lösen dort seine Hände. Für heute bin ich wieder frei und sicher. Nur noch ein paar Wochen, verspreche ich mir, dann werde ich nicht mehr lügen. Ich werde nie wieder das „Ich liebe dich auch“ aussprechen, dass ich nicht meine. Dies schulde ich dem siebenjährigen Mädchen, das viel zu früh lernen musste, sich von unerwünschten Händen zu lösen. Ich weiß‘ aber auch, dass sich die Wochen wahrscheinlich in Jahre verwandeln werden. Ich bin stark genug zu lügen, allerdings nicht stark genug die Wahrheit auszusprechen. Noch nicht. Die Wahrheit wird er nicht verstehen. Er will sie genau so wenig hören, wie ich sie sprechen möchte.

Ich verstand nie, wieso Menschen sich nicht von den Beziehungen trennen können, die ihnen schaden. Heute verstehe ich, dass ich selbst in einer solchen bin. Lügen kann die Rettung sein, wenn man sich beschützen muss. Dass das so ist, lernte ich, als ich zu lügen begann. Worte sind mächtig. Sie können Hände entfernen. Ich weiss’ es ist nicht richtig, aber einmal begonnen, ist es schwierig aufzuhören. Seit Jahren kämpfe ich mich frei von den vier Worten, seit Jahren scheitere ich. Ich muss die Ketten brechen, die er mir als kleines Mädchen um die Hände band.

Die Sonne geht unter und verschwindet hinter den Bergen, ich höre seine Schritte im Gang, er tritt ein und seine Hände erfassen mich. «Ich liebe dich auch, Papa».

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