Ich schlage meine Decke zurück und schlüpfe aus dem Bett. Verschlafen
schlage ich die Vorhänge meines Zimmers zurück und sehe aus dem
Fenster. Nebel liegt über der Stadt. Geheimnisvoll, regnerisch und
wunderschön. Die Lichter der Häuser spiegeln sich in der Scheibe vor
meiner Nase. Langsam lasse ich meine Stirn gegen das Glas sinken und
schliesse die Augen. Heute wird es besser werden! Heute ist ein guter Tag!
Seufzend löse ich mich vom Fenster und mache mich auf ins Badezimmer.
Das Klappern aus der Küche ist verstummt. Stattdessen höre ich leises
Lachen von unten. Ich steige in die Dusche und lasse das warme Wasser an
mir herunter laufen. Meine Muskeln entspannen sich. „Lyra, bist du wach?“
Ein Klopfen an der Türe. „Ja! Bin ich!“ Schnell trockne ich mich ab und
schlüpfe in die Klamotten, welche ich gestern herausgesucht habe. Ein
kurzer Blick in den Spiegel im Flur verrät mir, dass ich nicht gut geschlafen
habe. Dunkle Ringe umschatten meine Augen. Da ich von Natur aus
besonders blasse Haut habe, sieht man sie deutlich. Kurz überlege ich noch
einmal ins Badezimmer zurück zu gehen, um die unschönen Schatten weg
zu schminken. Egal, heute macht das keinen Unterschied. Heute wartet eine
wichtigere Herausforderung auf mich.
Ich stürme die Treppen hinunter. In unserer Küche steht bereits mein Dad.
Sein schwarzes Haar ist verstrubbelt und er trägt noch immer seinen
Schlafanzug. „Musst du heute nicht arbeiten?“, frage ich. Er schüttelt nur
den Kopf und rührt weiter in der Milch auf dem Herd. Dad ist morgens nie
besonders gesprächig. Er ist ein echter Morgenmuffel. Im Esszimmer sitzt
mein Papa und kaut an seinem Brot. Er lächelt als er mich sieht: „Guten
Morgen mein Schatz!“ Er umarmt mich und widmet sich dann wieder seiner Zeitung. Schweigend schenke ich mir eine Tasse Tee ein. „Geht es dir nicht gut?“, fragt Dad, der sich mittlerweile zu uns gesellt hat. „Du bist
blass!“ „Nur ein wenig aufgeregt wegen meiner Rede!“, nuschle ich. „Du
weisst wie unvorstellbar stolz wir auf dich sind, oder?“, Papa sieht von seiner Zeitung auf. Ich sehe ihn liebevoll an. „Natürlich weiss ich das!“. Er lacht. Ich muss schmunzeln. „Ich muss dann los!“, langsam erhebe ich mich vom Tisch. „Nimm einen Schirm mit, es regnet!“, Dad nimmt mich in den Arm und drückt mich fest an sich. „Das wird schon!“ Ja, ihr habt richtig gehört. Ich wachse mit zwei Vätern auf, was heisst, ich teile mein Leben mit einem schwulen Paar. Wir sind eine ganz normale Familie. Für viele tönt das unvorstellbar, doch für mich ist es Alltag. Schliesslich bin ich damit aufgewachsen und ich würde die Beiden gegen nichts in der Welt eintauschen.
Der Gehweg vor unserem Haus ist mit bunten Blättern übersäht. Es ist
Herbst. Ich schlendere zur Bushaltestelle und lausche dem Rascheln der
Blätter. Der Nebel ist so dicht, dass ich kaum einen Meter weit sehen kann.
Doch das stört mich nicht. Ich liebe diese Jahreszeit, mit all den Regentagen
und dem kalten Wetter. Die Bushaltestelle ist leer. Kaum stehe ich unter dem Dach, beginnt es zu regnen. Ich horche wie die Tropfen auf das Glas
klatschen. Es tönt wie Applaus. Wie Applaus den ich niemals bekommen
werde. Ganz plötzlich taucht eine Erinnerung vor mir auf. Meine erste
Schulaufführung. Ich hätte eine Prinzessin spielen sollen. Jedoch war ich vor meinem Auftritt so aufgeregt, dass ich alles vermasselt habe und auf der Bühne kein Wort heraus brachte. Alle haben mich ausgelacht. Der Bus,
welcher mit einer Vollbremsung und quietschenden Reifen vor mir hält, reisst mich aus meinen Gedanken. Ich steige ein und dränge mich an den gefüllten Bankreihen vorbei. Niemand aus meiner Schule ist hier! Ich bin die Einzige aus diesem Quartier. Normalerweise ist der Bus zu dieser Zeit vor allem mit älteren Damen gefüllt, doch heute drängt sich auch noch eine Gruppe von schnatternden Touristen im Gang zusammen. Ich lasse mich auf meinen Stammplatz fallen und setzte die Kopfhörer auf. Die Welt um mich verstummt und ich konzentriere mich nur auf die Musik. Die verregneten Strassen der Stadt ziehen lautlos an mir vorbei. Über die Scheibe rinnen Regentropfen. Ich sehe ihnen nach. Dad hat mir, als ich noch kleiner war, einmal erklärt, dass jeder Regentropfen einzigartig ist. Erst wenn sich alle Tropfen zusammen tun gibt es Regen. Genau wie bei uns Menschen. Ein Einzelner ist bedeutungslos, doch wenn wir uns zusammen tun und uns gegenseitig unterstützen, können wir vieles bewirken. Ich wünschte die Menschheit würde das endlich einsehen und mit Taten beginnen. Es gibt viel zu viele Dinge auf der Welt, die nicht so laufen wie sie sein sollten, wie der Klimawandel und die Diskriminierung von Minderheiten. Ich habe mich entschieden, dass es sich lohnt für eine bessere Welt zu kämpfen.
Der Bus hält ruckartig. Das wäre meine Haltestelle gewesen. Seufzend lehne
ich mich zurück in meinen Sitz. Jetzt muss ich mit allen anderen aussteigen
und in der Menge zur Schule laufen. Ich versuche mich hinter der Kapuze meines Mantels zu verstecken. Ein Auto fährt mit vollem Karacho an mir vorbei und bespritz mich von oben bis unten mit eiskaltem, schmutzigem Regenwasser. Ich bleibe stehen. Es war nur ein Missgeschick, versuche ich mich zu beruhigen. Ich spüre wie das Wasser an meinen Beinen hinunterläuft. Der Tag fängt ja gut an.
Im Schulhaus ist es laut und stickig. Schliessfächer werden zugeschlagen,
Schüler schreien herum, Papierflieger schwirren durch die Luft. Das reinste
Chaos. Ich schnappe mir meine Bücher und fliehe so schnell wie möglich zu
meinem Klassenzimmer. Als ich über die Schwelle des Schulzimmers trete,
stolpere ich. Ein lautes Lachen ertönt, als ich hart mit den Händen auf dem
Boden aufschlage und meine Bücher vom Himmel regnen. Ich rapple mich
mühsam auf und sehe direkt in Davids Augen. Stechend und höhnisch sein
Blick. „Oh nein, ist das Schwuchtelmädchen hingefallen?“ Er lacht dreckig.
Ich schliesse kurz die Augen. Ruhe bewahren! Schweigend sammle ich
meine Bücher vom Boden auf und setzte mich an meinen Platz. Heute ist ein guter Tag, rede ich mir weiter ein. Ich versuche mich auf den Unterricht zu konzentrieren und die Gedanken an Davids Sticheleien und Demütigungen zu ignorieren.
Die Mittagspause ist wie immer besonders schlimm. Ich hole mir gerade
mein Essen, als mich jemand anrempelt. Mein Tablett gleitet mir aus den
Händen und landet scheppernd auf dem Boden. Die ganze Cafeteria lacht.
Niemand macht Anstalten mir zu helfen. Ich versuche notdürftig die Sauerei mit meiner Serviette aufzuputzen. Schliesslich kommt eine der Frauen, welche das Essen ausgeben, und reicht mir freundlich einen Lappen. Schüchtern bedanke ich mich und putze den Rest. Ich muss mich wohl mit einem Apfel begnügen. Das ist das Einzige, was von meinem Mittagessen noch heil geblieben ist. Es ist schon seit einer ganzen Weile so! Sie hänseln mich wegen meinerVäter und weil ich mich für die LGBTQ+ Community einsetze. Die kleine Miss Weltverbesserin nennen sie mich. Nach der Mittagspause geht der Unterricht weiter. Ich gebe mir Mühe mich zu konzentrieren, doch meine Gedanken schweifen immer wieder ab. In einer Stunde habe ich meine Rede in der grossen Aula, vor der ganzen Schule… Morgen wird ein Protestmarsch gegen die Diskriminierung von Homosexuellen in den Strassen unserer Stadt stattfinden und ich habe beschlossen dieses Thema meine Schule näher zu bringen. Ich bin schüchtern und hasse es im Mittelpunkt zu stehen. Doch die Sache ist wichtig und ich möchte mich dafür einsetzen.
Endlich klingelt es. Meine Mitschüler strömen aus dem Klassenzimmer in
Richtung Aula. Ich atme tief durch und umklammere die Karten, auf welchen ich mir gestern Abend Notizen gemacht habe. Schliesslich stehe ich auf und folge den anderen. Leise schleiche ich mich in den grossen, bereits gefüllten Saal. Es herrscht ohrenbetäubender Lärm. Lehrpersonen versuchen ihre Schüler zur Ruhe zu bringen. Ich gehe zur Bühne, wo bereits unser Direktor steht. Er klopft ans Mikrophon des Rednerpults. Ein hoher Pfeifton lässt die Schüler zusammenzucken. Langsam begeben sich alle auf ihre Plätze. „Hallo liebe Schüler!“, beginnt der Direktor mit seiner Einleitung. Doch ich höre ihm nicht zu. Ich starre die Menge unter uns an. Panik steigt in mir hoch. Mit ruhigen Atemzügen versuche ich mein pochendes Herz zu besänftigen. Verhaltenes Klatschen. Dann kommt der Direktor auf mich zu. Mit freundlichem Blick überlässt er mir das Rednerpult und verschwindet hinter dem Vorhang. Jetzt stehe ich alleine auf der riesigen Bühne. Zitternd gehe ich zum Mikrophon. Erneutes Getuschel und Gelächter. So viele Leute… Unsicher greife ich nach dem Mikro und umfasse es so fest, dass meine Fingerknöchel weiss anlaufen. Niemand sieht zu mir auf. Es ist als würden sie mich gar nicht bemerken. Ich räuspere mich. Wieder ertönt das grauenhafte Knacken und Pfeifen des Mikrophons. Die Schüler kreischen und halten sich empört die Ohren zu. Jetzt sehen mich alle erwartungsvoll an. „H-Hi!“, beginne ich stotternd. Ein paar Mädchen aus dem Publikum kichern und wieder wird es unruhig. Ich balle meine Hände zu Fäusten. Das ist meine Chance ihnen zu zeigen, dass ich nicht das schüchterne Mädchen bin, für das mich alle halten. „Hallo, mein Name ist Lyra und meine Eltern sind schwul!“, sage ich laut. Das Gekicher wandelt sich zu Totenstille. Alle starren mich an. „Ja, ich bin mit zwei Vätern aufgewachsen und nichts daran ist falsch“, fahre ich fort. „Wer von euch hat nicht schon einmal jemandem du Schwuchtel nachgerufen?“ Ein paar Jungen aus dem Publikum lachen. „Wisst ihr wie weh solche Worte tun? Wisst ihr wie es ist, nicht die Person sein zu können, die man wirklich ist, weil man sich dafür schämt? Meine Väter haben sich Jahre lang versteckt aus Angst dafür verachtet zu werden homosexuell zu sein. Was genau ist daran so schlimm das selbe oder beide Geschlechter zu lieben?“, frage ich das Publikum. Niemand sagt ein Wort. Endlich hören sie mir zu. Nun sind alle Hemmungen von mir abgefallen. „Sollte nicht jeder leben dürfen wie er will? Was muss es uns angehen, dass sich da drüben in der Ecke zwei Frauen küssen oder, dass jener Junge bisexuell ist?“. Ich mache eine Kunstpause und sehe in die Menge. Leises Kichern. „Wir sollten dafür kämpfen, dass jeder so sein kann, wie er ist und sich niemand verstecken muss“, rufe ich in die Runde. Aufbrausendes Klatschen. Wie betäubt stehe ich da. Viele Schüler sind sogar aufgestanden. Es scheint als hätte ich diese erreichen können, als hätten sie verstanden, was ich ihnen sagen will. Lächelnd sehe ich zu ihnen hinunter. Dann schliesse ich die Augen und geniesse den Moment. Heute Morgen habe ich noch gedacht, Regen klingt wie Applaus. Doch das stimmt nicht ganz. Im Applaus schwingt Wertschätzung mit. Hoffnungsvoll öffne ich die Augen.
Heute ist ein guter Tag! Ich fühle mich nicht mehr allein. Vielleicht ist ja genau dieser Augenblick sogar der Start in eine „etwas bessere Welt“.
Am nächsten Morgen nehmen meine Väter und ich am Protestmarsch teil.
Mitten in der Menge von Demonstranten, sehe ich auf der anderen
Strassenseite bekannte Gesichter. Ein paar meiner Klassenkameraden
schwingen dort eine Regenbogenflagge. Ich grinse. Eines der Mädchen
bemerkt mich und winkt fröhlich zu mir herüber. Heute ist tatsächlich ein noch viel besserer Tag!