"Herbstgefühle" – Eine Geschichte von Delia Burgener - Young Circle

«Herbstgefühle» – Eine Geschichte von Delia Burgener

Member Stories 2024

«Herbstgefühle» – Eine Geschichte von Delia Burgener

Als ein Mädchen nach einem langen Arbeitstag im Regen nach Hause kommt, wird sie von Erinnerungen an die verstorbene Nachbarin und einem seltsamen, unerwarteten Besuch aus der Vergangenheit eingeholt. Ein mysteriöser junger Mann, der sie in einem Traum gerettet hat, taucht plötzlich in ihrem Leben auf und bringt ein geheimnisvolles Schmuckstück mit, das die Grenzen zwischen Traum und Realität verwischt.

Die Laterne am Strassenrand flackerte. Wie ich es hasste, erst so spät von der Arbeit nach Hause zu kommen. Zudem musste es ausgerechnet jetzt auch noch wie aus Kübeln schütten. Ich zog meine Kapuze noch ein wenig tiefer ins Gesicht, beschleunigte meine Schritte und war in Gedanken bereits zu Hause, in meine braune Kuscheldecke geschmiegt, eine heisse Schokolade mit Zimt schlürfend und vor dem knisternden Kamin sitzend, in mein neustes Buch vertieft. Wie war es möglich, den Herbst nicht zu lieben? Zimtschnecken, Kerzen, Kürbisse und verregnetes Wetter – etwas Besseres konnte ich mir nicht vorstellen. Allerdings befinde ich mich bei letzterem vorzugsweise drinnen im Warmen. Weit war es nicht mehr, als ein schwarzer Van mit der Aufschrift „Umzugsfirma Rügen“ an mir vorbeiraste und meine Hose mit dem Pfützenwasser vom Boden tränkte. Nicht dass es irgendeinen Unterschied gemacht hätte, ich war durchnässt bis auf die Knochen, doch was wollte ein Umzugsunternehmen hier? Kein Haus in der Strasse war unbewohnt, bis auf—. Ich wollte nicht darüber nachdenken. Die alte Lady war immer so aufgeweckt gewesen, hatte mir Plätzchen vorbeigebracht und mich zum Tee eingeladen, bis sie plötzlich nicht mehr an der Haustüre klingelte… Dass das Haus wieder verkauft wurde, war zu erwarten gewesen und trotzdem kam es mir vor, als habe man ihr Andenken bereits vergessen, als nun wieder Licht in den grossen Fenstern brannte. Aus einem unerklärlichen Grund erfüllte mich dieser Anblick mit Wut. Daher riss ich mich los und ging die letzten Schritte zu meiner Haustür. Drinnen angekommen tauschte ich die Regenjacke gegen einen Pullover mit abgebildeten Halloweenkürbissen und fand mich schon kurz danach im Sessel neben dem Kamin wieder. In der nächsten Stunde konnte ich alles um mich herum vergessen, versank in die Geschichte des Romans. Der würzige Geruch einer Duftkerze in der Nase und das Knistern des Feuerholzes lockten einen beinahe in eine Trance. Je länger, je mehr wurden die Worte unklar und verschwanden schliesslich gänzlich.

Eine Kutsche raste auf mich zu und doch bewegte sich mein Körper keinen Zentimeter. Aus den Nüstern der Pferde stiess Dampf und die Holzräder ratterten auf dem unebenen Untergrund. Die Peitsche des Kutschers knallte und er schrie Worte, die ich nicht verstand, bevor mich etwas von den Füssen riss und ich im Matsch des Strassengrabens landete. Was zum-. Jemand hatte mich beiseite gestossen, jedoch versucht, den Sturz nach Möglichkeit abzudämpfen. Ein junger Mann rappelte sich auf, klopfte den Staub von den Kleidern und streckte seine Hand, über deren Innenfläche sich eine längliche Narbe zog, aus, um mir aufzuhelfen. „Ich bitte um Verzeihung Mylady, doch die Pferde hätten Sie zertrampelt.“ Mehr als anstarren konnte ich ihn nicht. Locken säumten sein Gesicht und seine grauen Augen erinnerten mich an einen Schneesturm, auch wenn keinerlei Kälte von seinem Blick ausging. Zögerlich kam ich seiner Geste nach und er zog mich auf die Füsse. Einen kurzen Moment schaute er mir einfach nur in die Augen und behielt meine Hand in seiner, bevor er sich eines Besseren besann, kurz den Kopf schüttelte und hinter mich trat. Bei seinem Rettungsmanöver hatte er einen Korb voller Äpfel umgestossen und half nun der Marktfrau, sie wieder aufzusammeln. Schliesslich nickte er mir zu und schritt davon. Der Unbekannte war schon beinahe in die nächste Gasse eingebogen, da entdeckte ich etwas Glitzerndes im Schlamm am Boden liegen. Es handelte sich um eine Art Anhänger, geschmückt mit einer Einlage aus Amethyst.

„Warten Sie!“, rief ich ihm nach und hielt das Schmuckstück in die Höhe. „Sie haben etwas verloren!“ Er drehte sich um, sah lächeln in meine Richtung und erwiderte: „Keine Angst, wir sehen uns wieder.“ Und weg war er.

Das Klingeln meiner Haustüre riss mich aus dem Schlaf. Mein Buch lag aufgeklappt auf meinem Bauch und ich musste einige Male blinzeln, um zu realisieren, wo ich mich befand. Das hatte sich extrem real angefühlt, musste sich wohl um dieses luzide Träumen handeln, von dem immer alle sprachen. Ich schälte mich aus der Decke und stieg die Treppe hinunter. Ich bekam nie Besuch, nicht mehr, wer konnte das sein? Den Knopf der Gegensprechanlage gedrückt haltend, fragte ich, wer da sei. Bei Nacht war besondere Vorsicht geboten und mittlerweile war es draussen stockdunkel, auch wenn die Uhr verriet, dass erst 21.21 Uhr war.

„Entschuldigen Sie, ich wollte Sie zu so später Stunde nicht stören, doch ich befürchte, der Postbote hat sich in der Hausnummer vertan. Ich bin erst gerade eingezogen, fand heute aber bereits ein Päckchen im Briefkasten, das Ihnen gehören müsste.“ Ich runzelte die Stirn. Das musste der Mann sein, der in das alte Haus eingezogen war. Er klang freundlich, also öffnete ich kurzerhand die knarrende Haustür. 

„Danke vielmals“, murmelte ich und konnte in dem spärlichen Licht nicht viel von dem Mann erkennen. Das kleine, mit zerknittertem Papier eingepackte Päckchen enthielt keinen Absender. Wie kam er auf die Idee, dass es mir hätte zugestellt werden sollen? Nichtsdestotrotz löste ich behutsam die Verpackung und eine kleine Kartonschachtel kam zum Vorschein. Als ich sie öffnete, erkannte ich als Erstes den violetten Stein, der in einem Anhänger verarbeitet war. Mein Atme stockte.

„Ein sehr schönes und kostbares Schmuckstück. Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle“, sagte der Fremde und kam grinsend näher. Erst jetzt trat er endgültig ins Licht und ich glaubte gleich in Ohnmacht zu fallen. Seine grauen Augen drangen durch mich hindurch, als er sich eine Locke aus dem Gesicht strich und ich die Narbe auf seiner Hand erkannte. Klirrend fiel der Anhänger zu Boden.

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